„Zufrieden? Nein. Nie.“ – „Unsere Zeit“ im Residenztheater (Kritik)

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Es wird wieder voll im Residenztheater! Und das ist das erste Mal seit rund 1,5 Jahren wörtlich gemeint, denn mit der neuen Corona-Verordnung darf der Saal mit jedem Platz belegt werden. Das trifft sich passend, denn am 19. September 2021 feiert das Bayerische Staatsschauspiel mit „Unsere Zeit“ die Eröffnung der neuen Spielzeit 2021/2022. Kopf hinter der Produktion, die ursprünglich bereits im Oktober 2019 den Startschuss der Intendanz Beck geben sollte, ist Simon Stone, das Steckenpferd unter den Hausregisseuren in München und bekannt dafür, dass fast jede seiner Inszenierungen allerlei Preise in der Theaterwelt abräumt. Die Erwartungen sind riesig, als sich um 17 Uhr der Vorhang für sechs Stunden Theater hebt.

© Birgit Hupfeld

Die Bühne: eine Tankstelle, möglichst detailgetreu, möglichst gläsern in der Front. Das Prinzip ist bereits bekannt aus „Drei Schwestern“ und in Hinblick auf das Bühnenbild auch aus „Die tote Stadt“ in der Staatsoper: das Szenario ist alltäglich, das Gesehene unheimlich vertraut. In dieses Gefühl von absoluter Greifbarkeit und Belanglosigkeit setzt Stone allerlei grundverschiedene Menschen, die sich gemächlich, aber unausweichlich annähern, aneinander reiben und zur Katastrophe führen. Das mag zwar mit der Zeit auch ein wenig zur Routine verkommen, aber funktioniert mit der richtigen Schwerpunktsetzung so gut wie Rasches Drehscheibe – es ist einzigartig. Und so ist der Schreck über die Laufzeit von drei Akten in Spielfilmlänge nur kurz, denn recht schnell ist klar: die Dialoge sind so dicht, die Gespräche so genial geschrieben, dass man selbst dann zuhören muss, wenn inhaltlich doch gar nichts geschieht. Dabei – und das ist wohl der spannendste Effekt dabei – vergeht die Zeit rasend schnell. Die Puste geht dem Stück erst kurz vor Schluss aus.

Wie es die Laufzeit schon vermuten lässt, konzentriert sich Stone nicht nur auf eine Vorlage aus Ödön von Horváths Kanon, er bringt allerlei verschiedene Personen zusammen und lässt den sich radikalisierenden Mittzwanziger auf den homosexuellen Lastwagenfahrer, den bayerischen Dümpel auf eine blutjunge Laden-Aushilfe und den zugekoksten Fußball-Manager auf die koitierungswillige Sozialarbeiterin treffen. Den prägnantesten roten Faden bildet der Asylsuche Hawal, der chronologisch 2015 zu Beginn des Stückes auf der Flucht an der Münchner Tankstelle vorbeikommt und im Jahr 2021 dann der ist, der das dem Abriss geweihte Haus als treuer Mitarbeiter abschließt. Herum finden sich auch alle gesellschaftlich relevanten Themen der letzten Jahre, die im Jahr 2021 nicht an Aktualität verloren haben: #metoo, Rassismus, Privilegiertheit, Yuppietum und Chauvinismus. Besonders der Figur des Martin sieht man dabei zu, wie sie mehr und mehr verkümmert, mehr und mehr im heimischen Schützenverein eine Denkweise übernimmt, die bestenfalls seit 1945 ausgestorben sein sollte. Er ist es dann auch, der am Ende für den Schock-Moment sorgt – im besten Stil eines Tarantino-Streifens.

© Birgit Hupfeld

Während allerdings die ersten beiden Hälfte vom unbeschreiblich stark spielenden Ensemble und dem fesselnden Text getragen wird, kommt der finale Akt relativ schnell ins Straucheln. Was zuvor noch mit absoluter Authentizität gefesselt hat, verkommt zu einer Diashow des Grauens. Nach und nach berichten die Figuren in Monologen von ihren schrecklichen Erfahrungen, stetig werden die Erzählungen an Unerträglichkeit gesteigert oder zumindest nicht gesenkt. Das erzielt leider zwei Effekte: dem der Abstumpfung und dem des irrealistischen Bildes, das zuvor noch so weit entfernt war. Vielleicht ist auch genau diese erschaffene Distanz nötig, um etwas Abstand vom Geschehen zu bekommen, allerdings vergeht stattdessen der packende Effekt am Ende, den Stone bei „Drei Schwestern“ problemlos erreicht. So erwischt man sich höchstens beschämt, das Schicksal an der Tankstelle bedauerlicher, weil nahbarer, zu empfinden als die Erzählungen über die unzähligen Tode im Mittelmeer, ansonsten allerdings vor allem in einer recht repetitiven Schleife, die von starken Momenten zwar gebrochen wird, letztendlich aber einen ärgerlichen Beigeschmack ob der so intensiven, so eindringlichen ersten beiden Hälften hinterlässt. Simon Stone will mit „Unsere Zeit“ viel, erreicht den Großteil davon und bekommt zurecht stürmischen Applaus. Auch wenn aktuell noch der Weg das ferne Ziel ist…

Kritik: Ludwig Stadler