„Vielleicht sind wir gar nicht geschaffen für die Zufriedenheit“ – „Drei Schwestern“ im Residenztheater (Kritik)

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© Sandra Then

Eine vertrackte Mischung aus Gehemmtheit und Trägheit, aus Zwang und nicht aufgebrachter Kraft durchzieht Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Steckengeblieben in einer russischen Provinzstadt zirkulieren Olga, Mascha und Irina innerhalb der vier vom verstorbenen Vater zurückgelassenen Wände, die nur scheinbar eine Wartehalle umgrenzen: Der Vorabend des großen Aufbruchs – nach Moskau!, in die Freiheit, in eine neue Zeit – entpuppt sich als Endstation, die Sammlung zum großen Sprung fällt zusammen in ein Haschen nach letzten Strohhalmen.

Simon Stone nahm sich der Aufgabe an, die „Drei Schwestern“ in die Jetztzeit zu überführen, seine Neufassung (Übersetzung: Martin Thomas Pesl) lässt die Grundelemente des Originals bestehen, versucht aber, das gesamte Stück vollkommen im Jahr 2019 aufgehen zu lassen – oder vielmehr im Jahr 2016: Seit seiner damaligen Premiere am Theater Basel wurden Stones Schwestern mehrfach ausgezeichnet und folgten Intendant Andreas Beck ans Residenztheater. Die Münchner Premiere fand am 30. Oktober 2019 statt.

Stones Überschreibung überzeugt in beide Richtungen: Zum einen wird eine konstante Nähe und Treue zum Original gewahrt, sowohl, was die Handlung als auch die Thematik und den Grundton des gut zweistündigen Bühnengeschehens anbelangt. Zum anderen gelingt es der Inszenierung über weite Strecken tatsächlich, wie mitten aus dem Leben, dem Leben in der Gegenwart geschnitten zu wirken.

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© Sandra Then

Alles ist genau das, was es eben ist: und genau darin liegt der Horror. Lizzie Clachans Bühnenbild, ein (rotierendes) Ferienhaus im modernen Viel-Holz-viel-Glas-Stil, in dem sich auf zwei Stockwerken der Großteil der Handlung abspielt, mag Ufo-Assoziationen triggern, doch diese „Drei Schwestern“, ihr Bruder Andrej (Nicola Mastroberardino), ihre Männer, Freunde, Geliebte und Bekannte, die sich in diesem ihren Ferienhaus zu den ordentlichen und außerordentlichen, doch immer feucht-(un-)fröhlichen familiären Zusammenkünften treffen, lassen jede Metaphorik sich in Aberglaube auflösen: Man hockt beisammen, palavert über Trump und den Brexit, rekapituliert mit ironisierender Gleichgültigkeit das eigene Leben in die Gesprächspausen hinein, nur allzu sensibel für das gegenseitige Desinteresse an der frisierten Oberfläche des Alltäglichen.

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Anders als in Tschechows Original, wo die Mehrzahl der Akteure entweder gesellschaftlich immobile und zur Unselbständigkeit verdammte Frauen, sowie dem unvorhersehbaren Oberbefehl unterstellte Militärs sind, realisiert sich die Drinnen-Draußen-, die Moskau-Provinz-Dialektik hier notwendig auf einer anderen Ebene: Die Hauptstadt ist nur ein paar Flugstunden entfernt, und jedem ist es aufgegeben, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Wer würde es noch wagen, im Angesicht dieses kategorisch-kapitalistischen Imperativs über seine Unglücklichkeit, Unzufriedenheit, Unausgefülltheit zu klagen, wenn Glück implizit als ein physiologisches Produkt der optimalen Selbstverwirklichung angenommen wird? – Selbst schuld, wer kein Start-Up gründet, wer nicht global beheimatet ist, wer sich mit einer Beziehung, die nicht perfekt ist, zufrieden gibt. Wo das Nicht-Optimale entweder pathologisiert oder zum eigentlich Gewollten umerklärt werden muss, wer würde da nüchtern diese jährlichen Gegenüberstellungen mit den ‚Geistern der vergangenen und zukünftigen Weihnacht‘ ertragen? Für die Generation, der ‚die ganze Welt offensteht‘, droht jede Konkretisierung dieser ganzen Welt eine bittere Enttäuschung zu sein, und zwar eine, für die man allein die Verantwortung trägt, die man sogar oder insbesondere vor den eigenen Geschwistern, als Mahnmale des Kindermärchens oder -mantras ‚Du kannst alles sein‘ nicht ablegen kann.

Das sind zerrissene Charaktere, die zum einen nicht fähig scheinen, ihr Leben an anderen Maßstäben als an jenem Ideal von Glück und Selbstverwirklichung zu bemessen, die „gar nicht geschaffen sind für die Zufriedenheit“, die andererseits aber noch zu sehr an eine natürliche Würde glauben, um nicht unfähig und unwillig zu sein, sich selbst und andere nur in den Kategorien von Gewinn und Verlust, Gewinnern und Verlierern zu denken. Doch der ’neue Mensch‘, der genau das kann, drängt bereits zur Übernahme, verkörpert von Natascha (Cathrin Störmer), der penetranten Ex-Frau Andrejs.

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© Sandra Then

An diesen Rändern droht die Inszenierung etwas auszufransen: Sowohl Mastroberardino als in Drogen- und Spielsucht abgeglittener Bruder Andrej als auch Strömer driften des Öfteren ins Karikieren ab, auch den Rollen des anti-sozialen Viktor (Simon Zagermann; im Original: Soljony) und des allgemeinen Bekannten Herbert (Florian von Manteuffel) lässt sich nicht viel Plastizität abgewinnen. Während Olga (Barbara Horvath), Mascha (Franziska Hackl) und Irina (Liliana Amuat) sowohl als individuelle Charaktere als auch als zeitgenössische Typen verstörend lebensecht wirken, zumal in der voyeuristischen 360°-Ansicht, die die Bühnenkonstruktion gewährt, wird dieser Realismus nicht für alle Figuren durchgehalten, was die Handlung manchmal in ein – zugegeben nicht unangenehmes – Plätschern geraten lässt. Doch auch Maschas Ehemann Theodor (Michael Wächter; im Original: Kulygin) und Geliebter Alexander (Elias Eilinghoff; im Original: Werschinin), Irinas Jugendfreund und vergeblicher Ehemann Nikolai (Max Rothbart; im Original: Tusenbach), und insbesondere ‚Onkel Roman‘ (Roland Koch; im Original: Tschebutykin) überzeugen vollauf. Letzterer ist zwar auch in Stones Bearbeitung Arzt und Trinker geblieben, jedoch vom zeitunglesenden Zyniker zum vereinsamten Wohlständler geworden, der ‚doch eigentlich alles hat‘ und doch nur noch von seinen Verdrängungsmechanismen getragen wird.

Das Schockierende dieser Inszenierung liegt in der Präsentation: So wie man im zunehmend traurigen Jahrestakt der verkrampften Familienzusammenkünfte dem Altern, dem Scheitern am sogenannten Glück ins Auge sehen muss, so fühlt man sich als Zuschauer selbst ins Rampenlicht gezerrt, ist angestoßen, die banale Tragik der fiktiven, aber plausiblen Lebensläufe einmal auf die eigene Selbstwahrnehmung anzuwenden. Wann begann die Selbstbeschreibung, sich im Vokabular der Werbung abzuspielen? Welche (toxischen) Ventile sucht sich die uneingestandene Unerfülltheit? Was tun, wenn die Realität der Bürde des großes Glücks nicht standhält? Eine echt russische Antwort wäre wohl der Griff zur Flasche, begleitet vom wegwerfenden „ist alles egal“, das Tschebutykin in Tschechows Originaltext insgesamt 113 Mal wiederholt. Diesen schweizerischen Schwestern näherliegend vielleicht: Kühlschranktürmagnetendurchhalteparolen oder Rupi Kaur-Weisheiten. Aufstehen, Krone richten, weitermachen, Leben, Lieben, Lachen, verdammt nochmal! –

Kritik: Tobias Jehle

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