„Jetzt gleicht sie ihr ganz“ – „Die tote Stadt“ in der Staatsoper (Kritik)

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Nachdem man vergangene Spielzeit den „Otello“ nach unzähligen Jahren mit Star-Besetzung als erste Neuproduktion auf die Bühne brachte, stellt sich wohl zurecht die Frage, mit welchem Stück die Bayerische Staatsoper die erste Premiere der aktuellen Saison begeht. Die Entscheidung fällt ebenfalls auf ein lange nicht mehr gezeigtes, aber vielfach geliebtes Opernstück – „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold. Erst 1920 feierte das Werk Uraufführung, zwei Jahre später dann in München. Wer allerdings zeitgenössischen und vor allem atonalen Wust erwartet, kann sogleich aufatmen: Korngold geht in bester Manier seiner späteren Filmmusik-Karriere vor. Seit 18. November 2019 gibt es das Werk im Nationaltheater zu sehen.

© Wilfried Hösl

Bereits die Liste des Kreativteams und der Besetzung liest sich wie ein Best-Of der Theater- und Opernwelt: Kirill Petrenko als Leitung des Bayerischen Staatsorchesters, Marlis Petersen und Jonas Kaufmann in den Hauptrollen und Regie-Durchstarter Simon Stone. Er ist es auch, der sich für die zwar modern gehaltene, aber gewissermaßen zeitlose Inszenierung verantwortlich zeichnet – wieder als Setting in einem Wohnungskomplex, wie es der Schweizer bereits in einigen Produktionen im Theater Basel erfolgreich vollbracht hat und welche nun im Residenztheater nebenan zu sehen sind. Der Weg ist also kein weiter, den Stone zurücklegen muss, ist ja auch er mit nach München gegangen – der Weg in die Opernwelt wiederum ist noch ein frischerer. Das Debüt gelang 2016 jedenfalls grandios. Auch in München verliert die Baseler Inszenierung nicht an Glanz, die Schwächen, Zweifel und Träumereien von Protagonist Paul werden großartig mit Kinderchor und Statisterie gelöst, es bleibt ein stetiges Treiben ohne Ermüdungserscheinungen.

© Wilfried Hösl

Die sind allerdings auch nur schwerlich möglich mit der Wucht von Korngolds Musik. Petrenko nimmt sich das alles zu Herzen und bringt das Staatsorchester zu absoluten Höchstleistungen – selten kommt aus dem Orchestergraben so ein schneidend-pointierter Klang, der unverstärkt schon die Lautstärke eines üblichen Rock-Konzerts erreicht. Den Höchstleistungen schließen sich Jonas Kaufmann als Paul und Marlis Petersen als Marietta an. Der Münchner Allzeit-Startenor ist zumeist ein Garant für eine gelungene Besetzung, gibt hier allerdings sein Rollendebüt als Paul, was mit einem gewissen Risiko verbunden ist, denn die Partie ist wahrlich alles andere als einfach – aber Kaufmann meistert sie gekonnt, vergisst dabei nicht sein spielerisches Talent und mimt einen realistischen, verzweifelten Witwer. Petersen dagegen zuzusehen, wie sie als quirlige, einseitig polygam lebende Marietta das innerliche Gegenteil der verstorbenen Marie repräsentiert, während sie äußerlich ihr ähnelt, ist eine pure Freude. Ausgeflippt tänzelt sie zum Schluss durch die gesamte Bühnenwohnung und brilliert gesanglich selbst in Höchstlagen.

Stimmig wird es natürlich erst dann, wenn all diese gelungenen Komponenten auch tatsächlich miteinander funktionieren – und das tun sie prächtig. „Die tote Stadt“ ist wahrlich kein leichtes, lockeres Werk, wenn Paul versucht, über seine verstorbene Ehefrau Marie hinwegzukommen und ihrer optischen Täuschung Marietta hinterherläuft, weil er die Tote darin erkennt. Nichtsdestotrotz transportiert die Neuproduktion in ihrer Ernsthaftigkeit auch eine Portion Leichtigkeit und vor allem Passion, die das Ensemble perfekt ausfüllen kann. Diese Leistung aller einzelnen Teile wird auch alsbald beim Schlussapplaus honoriert – so schnell ist das Publikum selten zu stehenden Ovationen aufgesprungen. Selbst die Neuinszenierungen gegenüber kritischen Opernbesucherinnen und -besucher zeigen sich äußerst erfreut – und mehr kann man wohl als Regisseur und Opernhaus kaum erreichen. Erfolgreicher Premierenstart!

Kritik: Ludwig Stadler
Besuchte Vorstellung: 6. Dezember 2019