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„Mir geht’s grad nicht so gut“ – „Der eingebildete Kranke oder das Klistier der reinen Vernunft“ im Residenztheater (Kritik)
An Molières „Der eingebildete Kranke“ kommt man wohl schwerlich vorbei, zumeist noch nicht einmal in der Schule, spätestens dann aber in der Theaterlandschaft entkommt man der Komödie auf der Bühne nicht mehr. Dabei ist der reine Text relativ zäh und gar nicht mal allzu besonders, weswegen das Residenztheater wohl auch eine Textneufassung von PeterLicht in Auftrag gegeben hat, was sich titelmäßig in „Der eingebildete Kranke oder das Klistier der reinen Vernunft“ äußert. Wie das alles dann auf der großen Bühne im Staatsschauspiel aussieht, konnte man an der Premiere am 20. Dezember 2019 begutachten. Die Uraufführung in dieser Form präsentiert alle Rezepte, die in Basel wunderbar funktioniert haben, nun in München.…
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„Mit der Wirklichkeit ist es wie mit den Träumen“ – „Wer hat meinen Vater umgebracht“ im Volkstheater (Kritik)
Im Münchner Volkstheater feierte am 13. Dezember 2019 „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach dem gleichnamigen autobiografischen Essay des französischen Autors Édouard Louis erfolgreiche Premiere. Bereits die Vorlage polarisierte und wird unter anderem als „Klassenkampfprosa“ bezeichnet, die deutsche Version unter der Regie von Philipp Arnold ist ein starkes Plädoyer für den Sozialstaat und gegen den Neoliberalismus in Frankreich, der dort seit mehr als einem Jahrzehnt die Politik bestimmt. Ein Sohn berichtet von seiner Kindheit, die maßgeblich von der Beziehung zu seinem Vater geprägt ist. Eigentlich müsste der Sohn den Vater hassen, nach allem, was in der Kindheit geschehen ist – kann er aber nicht. Der Sohn hat erkannt, dass der…
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Ist es nicht eigentlich egal, irgendwie? – The Vacuum Cleaner in den Kammerspielen
Isolation, Rückzug, Monotonie – in seinem neuen Stück nimmt Toshiki Okada die japanische Gesellschaft genauer unter die Lupe. Eine Gesellschaft, in der immer mehr Erwachsene ihr Leben lang bei ihren Eltern wohnen und es nicht schaffen, auf eigenen Füßen zu stehen. Vielmehr setzen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse so sehr unter Druck, dass sie Angst haben, das Zuhause und somit ihre Sicherheit zu verlassen. Doch wo bleibt zuhause bei den Eltern die Privatsphäre? Diese ist wohl nur ab und zu durch das laute Geräusch des Staubsaugers gegeben. The Vacuum Cleaner wurde am 12. Dezember 2019 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Okada erschafft Figuren, die für sich sind. Nicht alleine, aber trotzdem irgendwie…
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„Deine Küsse sind ein wollüstiges Gähnen“ – „Leonce und Lena“ im Residenztheater (Kritik)
Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ ist ein seltsames Zwitterwesen aus Kalauern und Verzweiflung, Kurzstrecken-Sarkasmus und Herzensreinheit und -schmerz, die bzw. der immer wieder durch die achselzuckenden Schichten der Selbstbespiegelung bricht. Prinzessin Lena und Prinz Leonce sollen miteinander verheiratet werden. Aus Abneigung gegen die arrangierte Heirat mit einem / einer unbekannten Anderen fliehen beide nach Italien – um sich dort, einander unbekannt und unerkannt, ineinander zu verlieben. Der Plan wird gefasst, als schaustellerische Attraktion, als angebliches Automaten- oder Androidenpaar an den Hof des Königs Peter, des Vaters von Leonce zurückzukehren und sich dort als Teil der ‚Show‘ trauen zu lassen, wodurch, indem die Eheschließung unabhängig von der Verkleidung nicht mehr…
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„Wir sind alle Geschichtenerzähler“ – „Vor Sonnenaufgang“ im Residenztheater (Kritik)
Alles erstrahlt in der Farbe der Sonne. Die Innenwände des Hauses. Die Außenwände des Hauses. Ja, sogar die Vorhänge. Doch im Leben der Familie Krause-Hoffmann läuft es alles andere als sonnig. Was anfangs scheint wie Szenen aus einer netten Sitcom mit den klassischen Streitereien und Problemen einer jeden normalen Familie, spitzt sich im Laufe des Stückes immer mehr zu und wird schließlich bitterer Ernst. „Vor Sonnenaufgang“ feierte am 29. November 2019 Münchner Premiere im Residenztheater. Die Familie, bestehend aus Egon, Annemarie, den beiden Töchtern Martha und Helene und Marthas Ehemann Thomas, scheint ein völlig harmonisches Leben zu führen mit den täglichen Neckereien und Uneinigkeiten. Als plötzlich Thomas‘ alter Studienfreund Alfred…
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Der aussichtslose Klassenkampf – „Der haarige Affe“ im Volkstheater (Kritik)
Die Wellen peitschen gegen den riesigen Luxusdampfer. Im Maschinenraum, einem Stahlgebilde, sitzen drei verrußte Männer und diskutieren über ihre Situation. Wer sind sie in dieser Welt der Industrie und des Stahls, was bewirken sie, wer interessiert sich für sie. Mit diesen Fragen setzt sich das Stück „Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill auseinander, das nun unter der Regie von Abdullah Kenan Karaca im Volkstheater aufgeführt wird – und leider den Sprung ins Heute verpasst. Das Stück dreht sich dabei primär um den Heizer Yank (Jonathan Müller), der in den 20er im Maschinenraum eines gewaltigen Luxuskreuzers arbeitet. Er selbst sieht sich als Mittelpunkt der Welt, als Zahnrad in der Industrie,…
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Vaterkomplexe und weibliche Emanzipation – „Die Räuberinnen“ an den Kammerspielen (Kritik)
Nur im Spiel, schrieb Friedrich Schiller, sei der Mensch wirklich frei und nach dieser Freiheit sehne er sich. Wie weit diese Freiheit von Regisseurin Leonie Böhm auf sein bekanntes Stück „Die Räuber“ angewendet werden kann, hätte aber Schiller selbst wahrscheinlich kaum für möglich gehalten. Wer bei „Die Räuberinnen“ in den Münchner Kammerspielen eine Nacherzählung der Geschichte Karl Moors und seiner polternden Räuberbande auf ihrem brandschatzenden und nonnenschändenden Weg zum gesellschaftlichen Umsturz erwartet, wird überrascht. Am Abend des 23. November. 2019 filetiert Böhm, die Meisterin der Reduktion, ohne falsche Ehrfurcht den alten Stoff um – wie Gro Swantje Kohlhof gleich zu Beginn in schillerschen, proklamatorischen Worten verkündet: „Das gewohnte Denken vom Geist aus…
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„Was hast du, Lulu? Nichts.“ – „Lulu“ im Marstall (Kritik)
„Lulu“ von Frank Wedekind? Das wirkt auf den ersten Blick ähnlich kreativ wie Brechts Baal und die totgeplünderten Räuber von Schiller. Natürlich hat das erotisch-verspielte Stück durchaus seinen Reiz, wohl auch in einer spröden Originalinszenierung, aber damit würde man es sich dann auch einfach deutlich zu leicht machen. Bastian Kraft hat diesen Ansatz nicht – er modelt das Verständnis um, lässt die Geschichte betrachten als sie nur zu spielen. Was genau dahintersteckt, offenbarte sich an der Premiere am 22. November 2019 im Marstall des Residenztheaters – und das kann sich sehen lassen! Dass so ein Abend gegen die Stück-Konventionen nicht gerade auch in der Besetzung eine exakte Kopie abverlangt, sollte selbstverständlich…
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Der eine macht mich zum Hund, der andere zum Gott – „Amphitryon“ im Residenztheater (Kritik)
Die Zuschauer, die am 21. Novemberabend 2019 zur Münchner Premiere von Heinrich von Kleists „Amphitryon“ im Residenztheater Platz nehmen, sehen zunächst einmal: sich selbst, in einer bühnenweiten, schräg herabhängenden Spiegelwand; und mit etwas Winken gelingt auch das Erkenne dich selbst ganz ordentlich. Erkenne dich selbst – der delphischen Aufforderung müssen – auf eine ganz verquere Art – auch Amphitryon (Florian von Manteuffel) und Sosias (Nicola Mastroberardino) nachkommen, die heimkommend aus dem Krieg sich durch Doppelgänger ersetzt finden. Zeus/Jupiter (Christoph Franken) und Hermes/Merkur (Elias Eilinghoff) haben die Plätze des Thebanerfeldherren und seines hasenfüßigen Dieners eingenommen, denn: Der Göttervater hat es auf Amphitryons Gattin Alkmene (Pia Händler) abgesehen – ob dabei die Samenlegung…
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Neandertaler im Schlafanzug – „Ronja Räubertochter“ im Residenztheater (Kritik)
Es gibt nur wenige Bücher, die Eltern ihren Kindern generationsübergreifend vorlesen, Klassiker wie „Die unendliche Geschichte“, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „Pippi Langstrumpf“ – „Ronja Räubertochter“ gehört ebenfalls dazu. 1981 erschienen, ist es den meisten Kindern im Publikum des Residenztheaters wahrscheinlich so bekannt, dass sie schon vorher sagen können, was jetzt gleich passiert. Das tun sie am Samstag, 16. November 2019, zur Premiere des Familienstückes auch vereinzelt im Flüsterton. Alle sind sehr aufgeregt, nicht nur die kleinen Zuschauer, sondern auch die Besetzung, schließlich handelt es sich um eine Produktion des Formates ‚Resi für Alle‘. Das bedeutet, dass einige Mitglieder der Räuberbande von Münchner Bürgern verkörpert werden, die nicht als SchauspielerInnen am…