„Mit der Wirklichkeit ist es wie mit den Träumen“ – „Wer hat meinen Vater umgebracht“ im Volkstheater (Kritik)

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Im Münchner Volkstheater feierte am 13. Dezember 2019 „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach dem gleichnamigen autobiografischen Essay des französischen Autors Édouard Louis erfolgreiche Premiere. Bereits die Vorlage polarisierte und wird unter anderem als „Klassenkampfprosa“ bezeichnet, die deutsche Version unter der Regie von Philipp Arnold ist ein starkes Plädoyer für den Sozialstaat und gegen den Neoliberalismus in Frankreich, der dort seit mehr als einem Jahrzehnt die Politik bestimmt.

© Gabriela Neeb

Ein Sohn berichtet von seiner Kindheit, die maßgeblich von der Beziehung zu seinem Vater geprägt ist. Eigentlich müsste der Sohn den Vater hassen, nach allem, was in der Kindheit geschehen ist – kann er aber nicht. Der Sohn hat erkannt, dass der Vater innerlich zerrissen ist: Seine persönlichen Erfahrung mit einem gewalttätigen Vater erlauben ihm nicht, sich in das gängige Gesellschaftsideal eines übermaskulinen Mannes einzufügen. Der Vater schreit den Sohn an, er solle nicht so eine Schwuchtel sein, verteidigt den Sohn jedoch, als ihm durch Außenstehende, die ihm ebenfalls deswegen angreifen, körperliche Gewalt angedroht wird. Das klassentypische Bild eines Mannes, der die Schule früh abbricht, harter körperlicher Arbeit nachgeht, eine Familie versorgt, trinkt, in Arbeitslosen und Ausländern ein klares Feindbild hat und homophob ist, kann der Vater nach außen hin aufrecht erhalten, jedoch erzählt die Mutter von einer jüngeren Version des Vaters, der Parfum trug, leidenschaftlich tanzte und sich auch mal als Frau verkleidete. Was musste passieren, dass der Vater sich so radikal veränderte? Wie wird ein Mann, der einst Gefallen an Kunst und Kultur zeigte, zu einem Beispiel einer homophoben, bildungsfeindlichen und gewaltbereiten Provinzgemeinschaft? Wie geht so ein Vater mit einem Sohn um, der sich früh als „anders“ herausstellt? Was passiert mit diesem Mann, wenn er, durch einen Unfall arbeitsunfähig, von der Politik plötzlich als faulenzender Arbeitsloser abgestempelt wird? Was geschieht wenn man sich plötzlich im eigenen Feindbild wiederfindet?

© Gabriela Neeb

Anne Stein, Jakob Geßner und Jonathan Hutter spielen abwechselnd und gleichzeitig Vater, Sohn, Mutter und Außenstehende und können dabei mit willensstarker Ausdruckskraft genauso wie mit tendenzieller Verletzlichkeit überzeugen. Im starken Gegensatz dazu steht der stetige Einsatz einer Live-Video-Übertragung und geisterbahn-artige Gummi-Masken, die jegliche Handlungen depersonalisieren und die Figuren fast unmenschlich erscheinen lassen. Den drei Schauspielern gelingt es dennoch auf beeindruckende Art und Weise auf minimalem Raum, auf Leinwand übertragen und mit Gummi-Masken auf dem Kopf, das Publikum zu faszinieren und Themen wie den Kampf gegen das Klassensystem oder die Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen authentisch darzustellen. Es entstehen denkwürdige Momentaufnahmen einer Familie, einer Gesellschaft, eines Systems, die jedem Zuschauer ins Gedächtnis gebrannt sein dürften, und es bleibt die Aussage, dass Politik für Herrschende nur eine Frage der Ästhetik ist, für die arme Bevölkerung jedoch ist es eine Frage von Leben und Tod.

Insgesamt ist „Wer hat meinen Vater umgebracht“ eine inhaltlich wie auch visuell interessante Produktion, die es durchaus wert ist, gesehen zu werden. Der Nachhilfeunterricht in Politik und sozialer Gerechtigkeit ist dabei inklusive.

Kritik: Anna Matthiesen