„Wir sind alle Geschichtenerzähler“ – „Vor Sonnenaufgang“ im Residenztheater (Kritik)

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Alles erstrahlt in der Farbe der Sonne. Die Innenwände des Hauses. Die Außenwände des Hauses. Ja, sogar die Vorhänge. Doch im Leben der Familie Krause-Hoffmann läuft es alles andere als sonnig. Was anfangs scheint wie Szenen aus einer netten Sitcom mit den klassischen Streitereien und Problemen einer jeden normalen Familie, spitzt sich im Laufe des Stückes immer mehr zu und wird schließlich bitterer Ernst. „Vor Sonnenaufgang“ feierte am 29. November 2019 Münchner Premiere im Residenztheater.

© Sandra Then

Die Familie, bestehend aus Egon, Annemarie, den beiden Töchtern Martha und Helene und Marthas Ehemann Thomas, scheint ein völlig harmonisches Leben zu führen mit den täglichen Neckereien und Uneinigkeiten. Als plötzlich Thomas‘ alter Studienfreund Alfred auftaucht, kommt es zu Spannungen zwischen den beiden, auch zwischen allen anderen Familienmitgliedern. Annemarie lädt Alfred zum Abendessen ein, für Thomas eine Qual, da der linkspolitische Journalist für ihn mehr einen Eindringling und ungebetenen Gast als einen Freund darstellt. Er ahnt, dass Alfred nicht nur aus persönlichen Gründen in sein Haus gekommen ist, sondern vielmehr, um mehr über ihn und seine politische Laufbahn zu erfahren. Es kommt zum Streit zwischen den beiden, die sich politisch auf völlig unterschiedlichen Seiten bewegen, und auch zwischen Annemarie und ihrem Ehemann Egon gibt es Ärger, weil sie ihn Abend für Abend aus derselben schäbigen Kneipe holen muss. Egon hingegen ärgert sich über seine Frau, die ihr Leben lebt, als wäre sie eine Maschine und dies auch von ihren Mitmenschen erwartet. Martha, die schwanger ist und gleichzeitig unter Depressionen leidet, kommt mit sich selbst kaum noch zurecht, sieht sich überall als Fehler und interpretiert alles als einen Vorwurf an sich. Ihre Schwester Helene will am liebsten überall sein, aber nicht in ihrem Elternhaus. Doch da sie wegen Geldproblemen ihre Wohnung aufgeben musste, bleibt ihr nichts anderes übrig. Als ihr Schwager sie dann auch noch küsst, ist die Verzweiflung wirklich groß.

An Problemen mangelt es der Familie definitiv nicht. Depressionen, Alkoholismus, Geldnot, Einsamkeit, Perfektionismus, Kontrollzwang, Identitätskrisen, Untreue und dann auch noch eine fragwürdige politische Einstellung auf Seiten von Thomas und Egon. Da beide in einem beigen Anzug mit weißem Hemd gekleidet sind, lässt sich gleich erkennen, dass sie die eine oder andere Gemeinsamkeiten haben müssen. Thomas wirkt ein wenig wie der Nachfolger von Egon. Es fühlt sich im Laufe des Stückes so an, als würde er immer mehr zu ihm werden. Nicht nur die politische Einstellung hat er sich wohl von seinem Schwiegervater abgekupfert, nein, man sieht ihn auch immer wieder mit der Weinflasche in der Hand.

© Sandra Then

Die Figuren wirken, als wären sie in dem Leben, das sie leben, gefangen. Als müssten sie sich befreien, losmachen von ihren Ketten. Doch es hält sie nichts fest, außer sie selbst. Sie wirken die meiste Zeit oberflächlich, als würden sie nicht wollen, dass man in sie hineinblicken kann. Die Sprache, die Ewald Palmetshofer für seine Bearbeitung von Gerhard Hauptmanns Stück gewählt hat, unterstützt dies unheimlich gut. Eine oberflächliche Sprechweise, klischeeartige Floskeln und merkwürdige, unpassende Wechsel zu Sätzen in Versform, tragen zur selbstentfremdeten, verzweifelten Stimmung passend bei. Und vielleicht unterstützt gerade diese oberflächliche Art zu sprechen die Tatsache, dass „wir alle bloß Geschichtenerzähler sind“, so wie es Thomas im Laufe des Stückes behauptet.

Der dramaturgische Verlauf ist in einzelne Episoden bzw. Szenen unterteilt. Zwischen diesen Szenen ist immer wieder ein Black eingebaut und es wird eine Art Zwischenmusik eingespielt, die den Umbau untermalt bzw. auf eine neue Szene vorbereitet. Anfangs unterstreicht dies den einfachen Sitcom-Charakter des Stückes, obwohl die Musik eher etwas Geheimnisvolles als Lustiges hat. Zum Ende hin kommen die Blacks immer unerwarteter, man erschreckt sich regelrecht, wenn plötzlich das Licht ausgeht. Es fühlt sich an, als würde da eine Gefahr lauern und immer näherkommen. Von Szene zu Szene immer näher. Unterstützt wird dieses bedrohliche Gefühl zudem von einer Art gleichmäßigem „Läuten“, welches immer auftaucht, wenn sich Spannungen zwischen Figuren zu bilden scheinen. Die Regisseurin Nora Schlocker versteht es offensichtlich, einen Spannungsbogen zu schaffen, dem auch der Zuschauer nicht entfliehen kann.

„Vor Sonnenaufgang“ ist ernüchternd und gesellschaftskritisch. War dies zu Zeiten von Gerhard Hauptmann noch ein Skandal, so ist dies heute etwas mit dem wir uns auseinandersetzen und das wir uns bewusst machen müssen. Ewald Palmetshofer sagte in einem Interview: „Glück ist eine verschwindende Ausnahme“, und genau das trifft es auf den Punkt. Palmetshofer und Schlocker schaffen es, den Figuren eine Art von Humor zu geben, teilweise ein wenig mit Witz und Charme verbunden. Sie erreichen damit sogar den einen oder anderen Lacher der Zuschauer. Doch auch für diese ist das Glück nur eine kurze Ausnahme.

Der Bruch kommt plötzlich, unerwartet. Nach einem Black ist plötzlich alles anders. Doch wenn man den Figuren richtig zugehört hat und mehr versucht hat in der Geschichte zu sehen, als nur die vielseitigen Probleme einer Familie der Oberschicht, dann hat man diesen Bruch kommen sehen. Am Ende bleibt nicht mehr viel zu sagen. Es bleibt nur noch die Sonne, die sich langsam erhebt und aufzeigt, dass ein neuer Tag beginnt.

Kritik: Rebecca Raitz