„Deine Küsse sind ein wollüstiges Gähnen“ – „Leonce und Lena“ im Residenztheater (Kritik)

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© Sandra Then

Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ ist ein seltsames Zwitterwesen aus Kalauern und Verzweiflung, Kurzstrecken-Sarkasmus und Herzensreinheit und -schmerz, die bzw. der immer wieder durch die achselzuckenden Schichten der Selbstbespiegelung bricht. Prinzessin Lena und Prinz Leonce sollen miteinander verheiratet werden. Aus Abneigung gegen die arrangierte Heirat mit einem / einer unbekannten Anderen fliehen beide nach Italien – um sich dort, einander unbekannt und unerkannt, ineinander zu verlieben. Der Plan wird gefasst, als schaustellerische Attraktion, als angebliches Automaten- oder Androidenpaar an den Hof des Königs Peter, des Vaters von Leonce zurückzukehren und sich dort als Teil der ‚Show‘ trauen zu lassen, wodurch, indem die Eheschließung unabhängig von der Verkleidung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, die Zwangsheirat des Prinzen verhindert werden soll – welche sich natürlich zuletzt als die eben nicht erzwungene, sondern ersehnte herausstellt: Leonce und Lena haben sich zu ihrem eigenen Glück selbst übertölpelt.

Doch was werden sie tun? Ihrer beider leere Verwöhntheit und Lebenslangeweile aneinanderschmiegen, die eine mit der anderen auffüllen? „Das ist ein Land […] wie ineinandergesteckte Schachteln: in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.“

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© Sandra Then

Es ist diese Thematik, die Thom Luz‚ Verarbeitung des Stücks, die am 7. Dezember im Residenztheater Ortspremiere feiert, bestimmt: Die würgende Leere, die unter einem endlosen Geklimper an Kurzzeitbefriedigungen immer wieder auftaucht. Wie Kinder, die ihre Eltern auf einem endlosen Möbelhausbesuch begleiten, bummeln die sechs Darsteller, die keinen fixen Rollen zugeordnet sind (wobei Lars Eilinghoff tendenziell Leonce und Lisa Stiegler tendenziell Lena ist), durch einen dampfigen Limbus zwischen Rohbau, Turnhalle und Thronsaal (Bühne: ebenfalls Luz) und spielen sich mit sich selbst, und den wenigen zur Verfügung stehenden Gerätschaften: Ein Barren, 2,5 Klaviere, eine Geige, eine Beatmaschine, zwei Schuhputzmaschinen, eine Wäschepresse, Stühle, ein Straßenhütchen. Mit allem kann man Musik machen und sinnlose Spiele erfinden – ersteres wird vor allem von Annalisa Derossi und Daniele Pintaudi übernommen, während sich Eilinghoff, Stiegler, Steffen Höld und Barbara Melzl die drastisch neu arrangierten Sprechpassagen teilen, die oft mehr wie spontan-spielerisch in einer Probenpause intoniert oder wie zum Memorieren aufgesagt wirken: womit man sich eben die Zeit vertreibt…

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© Sandra Then

Überzeugen kann Luz‚ Inszenierung dann, wenn das Geplänkel der Figuren sich als undurchdringliches, entwortetes Phänomen präsentiert, in sich verschlossen wie ein Kinderspiel oder eine Zwangsstörung. Begleitet vom unsteten Klavierspiel, das an Ambientprojekte wie The Caretaker erinnert, mag man sich als Zuschauer tatsächlich ein wenig fühlen wie Dante in der Unterwelt: Dies sind die Prinzen und Prinzessinnen des 21. Jahrhunderts, denen die Ablenkung zum Lebensinhalt geworden ist. Sie erleiden die Strafe, in alle Ewigkeit auf einen Stein spucken,  oder Wetten über die Anzahl der Sandkörner in ihrer Hand abschließen zu müssen. Doch leider driftet die Inszenierung immer wieder vom Phänomen in die Pantomime ab, scheint dann doch etwas sagen zu wollen, unterliegt der Macht der Bühnensituation, und lebt mehr schlecht als recht von Slapstick-hafter Augenblickskomik oder der expliziten Abweichung vom Erwartbaren.

Doch vielleicht ist dieses nur halb befriedigende Erlebnis genau die rechte Entsprechung zu Büchners immer wieder einbrechendem Text: Die Schachtel wurde gefüllt – mit einer neuen Schachtel, ein Ende der Schachtelung ist noch nicht abzusehen, aber kleinste gemeinsame Unerfülltheit kündigt sich als unabweisbare Ahnung an.

Kritik: Tobias Jehle