Ein jeder trage seine Last zum Wohle aller! – ‚Herakles‘ im Volkstheater (Kritik)

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Worauf kommt es im Leben wirklich an? Glaubt man den Auswertungen aktueller Umfragen, stehen Aspekte und Werte wie Freundschaft und Familienleben zumeist an allererster Stelle. In einer Zeit, in der es immer wichtiger erscheint, gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen zu entsprechen, werden Wunschbild und Wirklichkeit jedoch mehr und mehr zum Paradoxon. Die Entwicklung des Wohlstandskollektivs hat – zunächst schleichend, inzwischen unübersehbar – selbst elementarste soziale Fundamente unterspült und macht sogar die Freiheit zur Erziehung der eigenen Kinder zu einem Luxusgut. Ein Hinterfragen des Systems wird gar nicht erst in Erwägung gezogen. Man ist entweder zu beschäftigt oder erstarrt in schlafwandlerischer Lethargie. Mit ‚Herakles‘ steht nun im Münchner Volkstheater ein Stück auf dem Spielplan, in welchem Regisseur Simon Solberg seinen Protagonisten zum Spiegelbild dieses Dilemmas werden lässt.

© Arno Declair

Der griechische Heros aus der Antike muss also diesmal im 21. Jahrhundert seine Buße tun. Und diese Buße bedeutet vor allem eines: Arbeit, Arbeit, Arbeit! So lässt sich der naive, aber mit göttlichen Kräften ausgestattete Herakles (Max Wagner) von einer Aufgabe zur nächsten hetzen. Im Glauben, er tue alles für seine Familie, zieht er rastlos durch die Welt, stellt sich den teuflischsten Gefahren und steigt sogar hinab in den Hades. Im Stile des klassischen Antihelden ist der Sohn des Zeus dabei von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Mit jeder Aufgabe, die er erfüllt, und mit jeder Reise entfremdet er sich mehr von Frau und Kindern, die irgendwann auf eigenen Füßen stehen. Schlimmer noch; seine Abhängigkeit zu Eurystheus (überzeugend: Jakob Geßner), der immer mehr von ihm verlangt, wird größer und größer, so dass ein Entrinnen aus der Last seiner vermeintlichen Pflicht und Verantwortung schließlich unmöglich erscheint.

© Arno Declair

Solberg fokussiert seine Inszenierung also auf die verhängnisvolle Diskrepanz zwischen Absicht und Wirkung im Handeln seiner Hauptfigur, während die eigentlichen Abenteuer eher in den Hintergrund geraten. Vor allem in der zweiten Hälfte des etwa 90-minütigen Stückes zeigt diese Konzeption ihre Stärken und findet in der spektakulären Masken- und Trommelszene, in der Herakles dem Wahnsinn verfällt, ihren Höhepunkt. Max Wagner liefert hier eine starke Performance ab und sticht aus einem solide spielenden, körperlich stark geforderten Ensemble heraus.

Positiv und äußerst originell wirkt auch die ungewöhnliche Gestaltung der Bühne, die durch riesige Warmluftschläuche bebildert wird. Die Möglichkeit des permanenten Umbaus lässt ständig neue Eindrücke zu und setzt die zahlreichen Raum- und Zeitsprünge gekonnt und atmosphärisch in Szene. Ein kreatives Meisterstück, das von der klug arrangierten Musik und den skurrilen, nicht minder phantasievollen Requisiten (polyfunktionale Flex- und Drainagerohre!) abgerundet wird.

© Arno Declair

Trotz des Ideenreichtums und des zweifellos vorhandenen Potentials des Stückes bleibt der Eindruck am Ende zwiespältig. Humor und (Selbst-)Ironie sind sicher kein Fehler und gehören am Münchner Volkstheater zum guten Ton, doch überschreitet ‚Herakles‘ schon mal die Grenze zum Klamauk und Figuren, wie der stark sächselnde Atlas (Thomas Eisen), führen schnell dazu, dass man die Aufführung an mancher Stelle fast schon als Parodie abtun möchte. Ein bisschen weniger hätte es hier auch getan.

Fazit: Kurzweilige, manchmal arg überdrehte Abenteuerreise, deren moderne Interpretation nur noch fragmentarisch an das klassische Vorbild erinnert. Keine Enttäuschung – aber leider auch kein Volltreffer.

Kritik: Hans Becker