Galaktische Nebel und tanzende Spermien. Neuronale Netzmandalas und frühe Embryonalstadien. Biblische Gemälde alter Meister und endlose Lichttunnel, alles morphend– entgegengesetzt und ineinander. Als der eiserne Vorhang hochgezogen wird, bietet sich dem Münchener Kammerspiel-Publikum ein apokalyptisches Stimmungsbild, welches auch aus einem Lars von Trier-Film hätte stammen können. Aber hier geht es nicht um den Untergang, hier geht es um die Entstehung der Welt. Doch wie erzählt man den Anfang aller Anfänge?
Am Abend des 28. Oktober 2018 befasst sich die israelische Regisseurin Yael Ronen mit dem wohl wirkungsmächtigsten Text der Menschheit: Dem ersten Buch Mose, hebräisch Bereschit, altgriechisch Genesis genannt, beschreibt die Erschaffung der Welt. Yael Ronen arbeitet sich in „#Genesis – A starting point“, ihre zweite Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, am Schöpfungsmythos ab. Dabei geht sie mit sehr viel Humor und satirischen Können, aber auch mit einer großen Portion Ernsthaftigkeit vor. Sechs Personen suchen einen Gott und stoßen dabei immer wieder auf sich selbst.
Aber zunächst springen diese in Hawaiihemden, Hippiebatikshirts und (das Zugpferd der Münchner Kammerspiele: Wiebke Puls) in Leoprinthosenanzug vor die schwarze Wand und den Zuschauern gegenüber. Damian Rebgetz beginnt zu erklären. Er müsse München verlassen, es ziehe ihn nach Berlin und überhaupt wäre er von dem Münchener Publikum ja nie wirklich geliebt worden. Denn diese würden Zweifel, Angst und Zweideutigkeit nie zu schätzen wissen und nur erfolgsorientiert an die Ware Theater herangehen. Ein typisches Kammerspiel-Vorspiel, bei dem eine Zuschauerbeleidigung nicht fehlen darf. „Ihr hasst mich, weil Globalisierung eure Kultur zerstört.“ Eine Zuschauerin verlässt gestellt das Theater (und schleicht sich nach fünf Minuten wieder herein). Schon klar. Berlin ist so viel cooler als München und künstlerische Experimente sind hier sowieso nicht möglich. Weil Engstirnigkeit der Bayern. Naja.
Diese Einleitung (eine Kapriole auf Intendant Matthias Lilienthal, der das Theater vorzeitig verlassen wird) erntet zwar Lacher, hätte man sich aber sparen können. Da hebt sich endlich der eiserne Vorhang und gibt das wie aus Zeit und Raum gefallene Bühnenbild von Wolfgang Menardi frei. Es scheint einem fast vergessenem, schönen Traum entsprungen zu sein. Eine in sich verschränkt, drehende Scheibe, die auf dem Bühnenboden kreist. Über ihr hängt schräg ein riesiger Spiegel, der wie ein Auge aus dem Weltraum auf die Erde oder ins Paradies schaut. Dieses Auge Gottes zeigt, was sich auf der Welt abspielt bzw. auf diese Bühne projiziert wird. Die Bühne der Münchener Kammerspiele wird zum Kunstobjekt: dem Mutterleib der Menschheit. Wem das nicht künstlerisch wertvoll genug ist, dem ist auch nicht mehr zu helfen.
Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler – in, von Amit Epstein und Tommy Opatz gefertigten, Tiermasken und Paradieskostümen mit Paillettenglitzer, die ihren Witz im Detail tragen und zugleich dennoch Raum lassen für große Bilder und große Fragen. Und was sie alles hinterfragen: das Prinzip des Monotheismus, die Allmacht und Einsamkeit Gottes, das Fehlen der weiblichen Position in der biblischen Schöpfungsgeschichte und die kosmogonischen Mythen anderer Kulturen. Das Ensemble stellt, auf der Halbkugel liegend, die darauf projizierten kunsthistorischen Schöpfungsbilder mit den eigenen Körpern nach. Dabei beschränken sie sich eben nicht nur auf die alte Baum-Apfel-Schlange-Geschichte. Auch der japanische Entstehungsmythos, der Gottheiten aus Kot und Urin schafft, werden zumindest angeschnitten. Aber ist das überhaupt erlaubt, zu Zeiten der „cultural appropriation“, fragen sich die Darsteller?
Auf jeden Fall kommt der Gottvater, gespielt von Samouil Stoyanov, sehr verweint und verwienert daher. Warum solle eine mesopotamische Fruchtbarkeitsgöttin auch etwas mit so einem faden transzendenten Gott anfangen, der einfach nur ist? Doch keiner jammert soviel wie Damian Rebgetz, ein beleidigter Adam, dessen Schwulen-Bekenntnis eigentlich die ganze Menschheitsgeschichte obsolet machen müsste. Wiebke Puls ist meist eine Eva als intellektuelle Kratzbürste. Und Zeynep Bozbay mimt eine Lilith, die auch aus einem Fack ju Göhte-Film stammen könnte. Der Abend über die Schöpfungsgeschichte wird zur Geschlechterdebatte, mit einer dysfunktionalen, weil mutterlosen, partriarchalisch geprägten Urfamilie. Daniel Lommatzsch ist die böse Schlange, mit „dem schlechten Ruf“, die gerne und lasziv züngelnd von gymnastischer Autofellatio erzählt – solche Karikaturen bevölkern hier die Bühne. Yael Ronen zeigt den Mut zum Pathos großer Bilder ebenso wie zugleich die notwendige Respektlosigkeit, um für heilige Mythen überraschende Varianten zu finden, wie eben für die – eigentlich als Symbol der Vollkommenheit geltende – sich in den Schwanz beißende Schlange. „Wenn Du verstehen willst, wie ein Gott sich fühlt, dann musst Du versuchen, Dir selbst den Schwanz zu lutschen.“ Es wäre aber keine Ronen-Arbeit, wenn nicht mögliche, persönliche Motive der Schauspieler in die Dramaturgie hineinspielen würden. Und so endet der knapp zweistündige Abend in einem berührenden Kaleidoskop, wenn Puls, Wilbusch und Rebgetz ihre ganz eigenen Erfahrungen mit Religion, Kirche und ihren Vätern preisgeben. Mit „Knockin‘ On Heaven’s Door“ entlassen sie das Publikum in die Nacht.
„#Genesis“ ist kein trockenes Reflexionstheater, sondern eine sinnliche, optisch aufregende und komische Inszenierung, die nicht zuletzt die Zuschauer dazu verführen will, neu über sich selbst nachzudenken. Atmosphärisch eine Meisterleistung, über diesen Urgrund unserer Kultur, der in unsere Gene eingeschrieben unleugbar Einfluss nimmt und deswegen immer wieder hervorgeholt, interpretiert und auch um – oder überschrieben werden muss.
Kritik: Carolina Felberbaum