„Der Fortgang der wissenschaftlichen Entdeckung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen“, hat Albert Einstein einmal gesagt. Zumindest behauptet das die Wissenschaft, die heute unseren Alltag bestimmt. Alles ist berechnet und geregelt, alles funktioniert und jeder kennt seinen Platz und fügt sich ohne zu fragen ein. Genau mit diesem Problem setzt sich Karl Alfred Schreiner mit seinem Expeditionsballett „Atlantis“ auseinander, dass am 7. Juni 2019 im Gärtnerplatztheater uraufgeführt wurde.
Die Geschichte, die man wirklich gelesen haben sollte bevor man sich das Stück ansieht, ist in zwei klar voneinander getrennte Teile aufgespalten. Der erste setzt sich mit der Welt der Menschen auseinander. In einem Labor geht alles seinen strukturierten Gang, es ist kein Platz für Konversation oder anderen Tätigkeiten, abseits der Arbeit. Daran ändert auch das Wesen nicht, das sie gefangen genommen haben und von den Wissenschaftlern wie jedes andere Objekt auch behandelt und kaum beachtet wird. Nur einer von ihnen kann sich aus dem Trott losreißen, denn er ist fasziniert von dem Wesen aus der Tiefe. Abends befreit er es, lernt es kennen und lieben. Als er dann versucht, sich wieder in das Treiben der Menschen einzugliedern, gelingt es ihm nicht. Er ergreift mit dem Wesen die Flucht, hinaus aufs Meer. Er kämpft so gut er kann gegen Strömung und Stürme, aber schließlich erliegen er und sein Boot den Wellen, er kentert und sinkt auf den Grund.
Hier beginnt nun der zweite Teil. Atlantis wird vorgestellt, es wird eine utopische Welt gezeigt, in der alle im Einklang miteinander leben und sich trotzdem persönlich entfalten können. Die Bewohner begegnen einander mit Hilfe und Zuneigung. Der Wissenschaftler jedoch kann nur ein paar Blicke auf diese Welt erhaschen, bevor er zu ersticken beginnt. Die Bewohner von Altantis scharen sich um ihn und tragen ihn nach seinem Tod davon.
All dies wird durch die Protagonisten Luca Seixa und Isabella Pirondi auf unterschiedlichste Art und Weise dargestellt. Während die Menschen ihrem Trott ergeben sind, sich während des Tanzes nur gegenseitig zurechtweisen und festgelegten Verhaltensweisen folgen, bewegt sich die Atlanterin, genau wie ihre Genossen, unter Wasser, geschmeidig und anmutig, langsam, teilweise unkontrolliert und in weiten Bewegungen. Auch der Wissenschaftler lernt diese Art des Lebens kennen, passt sich langsam an und fällt so schließlich aus dem Raster. In Atlantis ist den Einzeltänzern viel mehr Freiheit gegeben. Nichts mehr passiert synchron, sondern einzigartig. Niemand muss den anderen leiten, sondern gibt ihm nur, wenn nötig, Hilfestellung. So zeichnet Schreiner einen starken Gegensatz zwischen zwei Welten, die so unterschiedlich sind, dass sie nicht gemeinsam existieren können. Die meiste Zeit gelingt es den Tänzern auch, dies darzustellen, nur verliert sich die Einzelleistung fast immer in der Menge der Darsteller. Einzig die Begegnung zwischen dem Wissenschaftler und dem Wesen aus Atlantis legt den Fokus auf die beiden Akteure, jedoch ist die Szene relativ eintönig und wird schnell ermüdend, was auch an der musikalischen Untermalung liegen mag.
Die Musik selbst ist dabei eine bunte Mischung aus den Stücken verschiedener zeitgenössischer Musiker, die jedoch nicht für das Stück geschrieben wurden. Dies fällt meistens nicht sonderlich negativ auf, allerdings sind die Bewegungen der Tänzer im seltensten Fall synchron oder überhaupt passend zu der Begleitung. Diese zeigt sich da sehr vielfältig und reicht von leichter, geradezu minimalistischer Hintergrundmusik zu dominanten und rasenden Melodien.
Man merkt jedoch schnell, dass ein großer Teil des Fokus auf der Bühne liegt, wogegen die Kostüme, die entweder Sicherheitsanzüge oder „Nacktkostüme“ sind, kaum Beachtung erfahren. Das Bühnenbild ist dabei in beiden Teilen des Stücks etwas Besonderes. In der Welt der Menschen ist sie eckig und kantig, würfelartig. Dabei verändert sie sich oft, wird hoch- und runtergefahren, gekippt, gedreht, verändert, aber stets in einer geradezu fabrikartigen Manier, während sie von hinten von großen Scheinwerfern und Neonstäben erhellt wird. Die Welt der Atlanter dagegen verändert sich nicht, sondern besteht nur aus einem großen Netz, das über der Bühne gespannt wurde und doch unglaubliche Dynamik ausstrahlt. Wenn die Tänzer sich auf dem Netz „austoben“, gerät es selbst in Schwingung, es wirkt fast so, als würde die Bühne mittanzen, sich den Bewegungen der Atlanter unterwerfen und sie gleichzeitig steuern.
Abschließend muss man sagen: „Atlantis“ ist ein utopisches Experiment. Vieles funktioniert und doch ist man am Ende nicht traurig, dass es zu Ende ist, denn das Stück hat zu viele Längen, die unverständlich bleiben und es nicht überwinden kann. Den Konflikt, der vermittelt werden soll, sucht man vergeblich. Was bleibt, ist vielleicht etwas Schönes. Mehr aber auch nicht.