Wie geht man auf Tour, wenn der große Hype vorbei ist? Der größte Hit des Kasseler Duos Milky Chance ist bis heute „Stolen Dance“ aus dem Jahr 2013. Ein Überraschungshit, der auf YouTube viral ging und auch international chartete. Viele weitere Hits wie „Cocoon“ oder „Ego“ folgten. Das Besondere ihrer Musik: die markante Stimme und eigenwillige Aussprache von Sänger Clemens Rehbein und die manchmal schon unangenehm eingängigen Melodien, die meistens ein Sommer-Roadtrip-Feelgood-Gefühl erzeugen. Fast sieben Jahre nach dem Durchbrach touren sie jetzt mit ihrem dritten Album „Mind The Moon“; am 13. Februar 2020 spielten sie im Münchner Zenith.
Der Rapper Mavi Phoenix ist als Support-Act angekündigt. Das Zenith ist nicht ausverkauft. Auf einen Wellenbrecher wurde verzichtet, deshalb ist es in den vorderen Reihen trotzdem drückend voll. „Just an average guy“ steht auf einem der Schilder auf der Bühne. Seit Herbst 2019 lebt Mavi Phoenix öffentlich als Mann. Am Künstlernamen hat sich aber nichts geändert, weil der sowieso unisex sei, wie er in einem Instagram-Post erklärt. Um 20:00 Uhr kommt er auf die Bühne gesprungen. Die übergroße lila Kleidung und sein Tanz-Style erinnern stark an Sängerin Billie Eilish. Viel selbstbewusster wirkt er als noch 2017 als Voract der Band Bilderbuch. Ungeniert und lächelnd zeigt er mehrmals die Mittelfinger während des Songs „Choose Your Fighter“. Ein BH fliegt auf die Bühne, den er verschmitzt aufhebt. Autotune als Stilmittel muss man mögen, wenn man Mavi Phoenix hört. Dabei ist sein stärkster Live-Song eine der wenigen ohne: Auf 12 Inches, den er auch als die „bedeutendste Nummer“ ankündigt, rappt er ganz klassisch ohne Stimmenverzerrung. Das funktioniert gut. Im April soll sein Debütalbum „Boys Toys“ erscheinen.
Das Bühnenbild von Milky Chance ist vom Albumtitel „Mind The Moon“ inspiriert: ein Sternenhimmel funkelt und dazu ein Leuchtkugel-Mond, der auch während des Konzerts immer wieder verschieden aufleuchtet. Außerdem eine Art Klettergerüstkonstruktion, die aus Leuchtstäben besteht. Zu viert kommen sie auf die Bühne. Den Schlagzeuger Sebastian Schmidt und den Mundharmonika spielenden Gitarristen Antonio Greger haben sie wieder mit auf Tour genommen. Sie beginnen mit „Fallen“ vom neuen Album. Es ist ein typischer Milky Chance-Song: es beginnt ruhig, bis es zum Beatdrop kommt, der in einem hüpf-und wippbarem Beat mündet. Dazu leuchten noch rotierende rote Leuchten und Nebelschwaden tun sich auf. Der oft kritisierte Sound des Zeniths ist heute gut. Einzig die Drums klingen etwas matschig und harmonieren nicht mit dem elektronischen Beat. In den hinteren Reihen ist es etwas wummerig.
Rehbein spricht erstmal nicht, sondern springt routiniert von neuem Song zu neuem Song. Er trägt Karohemd, die Haare inzwischen zurückgegelt und nicht mehr wild nach oben, wie zu Beginn seiner Karriere. Ein „Servus“ rutscht ihm kurz raus, aber man merkt, dass er sich lieber auf die Lieder konzentriert. Er singt konstant gut und gleichbleibend, dass es einem Trance-Zustand ähnelt.
Dem neuen Album fehlen die Hits, deshalb bleibt das Publikum noch etwas verhalten. Es sind viele Studierende, die oft die Handys nur zu Beginn eines Songs hochstrecken und es dann ganz gewissenhaft wieder einpacken. Zu „Blossom“ tanzen sie gelöster und singen mit. Den Song kennt man aus dem Radio, ein Hit vom zweiten Album. Die Band bleibt im Folgenden im Bereich Best-Of und spielt unter anderem „Down By The River“. Wieder ein dankbarer Beat zum Wippen. Danach die erste Ansage: „Weiß gar nicht, was ich sagen soll. Mann, seid ihr viele.“ München sei auf der Europa-Tour der Stopp mit der größten Location. Und die Überforderung kauft man ihm auch nach drei Alben noch ab, so schön verplant und ungeskriptet klingt er. Die Stimmung bleibt entspannt. Songs wie „Daydreaming“ und „Oh Mama“ sind sehr laidback und haben einen Reggae-Vibe. Jointgeruch liegt in der Luft. Clemens wirkt wie versunken in der eigenen Musik und es macht Spaß zu sehen, wie sehr er es selbst fühlt.
In dem Stil geht es fast zu lange weiter, bis er mit einer doch noch längeren Ansage unterbricht. Er druckst ein bisschen herum. In den eineinhalb Jahren Pause hätten sie viel nachgedacht. Über das, „was wir sind und was wir machen.“ Ein bisschen verzettelt er sich in der Ansprache. Sie hätten jetzt eine Nachhaltigkeitsmanagerin mit im Team, denn ihr ökologischer Fußabdruck als Band, die international tourt, sei nicht gut. Unter anderem gibt es jetzt Second Hand Merch, was bedeutet, dass sie mitgebrachte T-Shirts am Stand bedrucken.
Bei dem wunderschönen Song „Loveland“ zeigt der Gitarrist seine Mundharmonika-Skills in einem Solo. Und danach kommt der große Song, „Stolen Dance“, der für sie so viel eingeleitet hat. Auf den Schultern sitzen jetzt viele, alle singen mit, es ist zum Ende hin nochmal eine große Studentenparty.
Milky Chance hat sich musikalisch nicht wirklich weiterentwickelt, sondern bleibt ihrem Songkonzept und Sound treu. Was am Anfang ihrer Karriere noch neu und überraschend klang, ist heute erwartbar und Mainstream geworden. Positiv gesagt: Ihr gesamtes musikalisches Werk wirkt wie aus einem Guss. Man bekommt genau das, was man will. Aber kritisch gesehen: Es ist kein Fortschritt zu erkennen, kein Anecken, kein Schocken. Das dritte Album konnte nicht an den Erfolg der Vorgängeralben anknüpfen. Vielleicht bedeutet es, dass die Fans wieder für eine Überraschung bereit wären, so wie sie einst „Stolen Dance“ für die Musikszene war.
Live können sie es ja immer noch. Bestätigt wird das unter anderem bei der letzten Zugabe „Sweet Sun“, bei der ein riesengroßes Mundharmonika-Solo nochmal zu einem musikalischen Ausbruch führt und das Publikum wild tanzen lässt. War jedoch auch schon der Schluss-Song mit gleicher Performance bei der letzten Tour. Funktioniert – aber es ist Zeit für etwas Neues. Auf die Gefahr hin, wieder zu überraschen.
Setlist: Fallen / Right From Here / Fado / Blossom / Cocoon / Down By The River / Daydreaming / Oh Mama / The Game / Long Run / Loveland / Window / Flashed Junk Mind / Stolen Dance – Zugaben: Ego / Running / Sweet Sun
Bericht: Katharina Holzinger