Distant Sky – Nick Cave & The Bad Seeds im Zenith (Bericht)

Der erste Song des Abends ist „Red Right Hand“ – ertönend als Handy-Klingelton in der Warteschlange am 02. November 2017 vor dem Zenith, die um 18:00 Uhr, eine halbe Stunde vor Einlass, schon beachtliche Ausmaße angenommen hat. Schlägereien um die Pole-Position gibt es natürlich keine, im Gegenteil – Nicholas Edward Cave ist schließlich kein Teenie-Star (mehr). Unübersehbar ist aber die erhebliche Anzahl an jungen Fans, die sich (manchmal in elterlicher Begleitung) eingefunden haben, um unser aller liebstem Loverman die Aufwartung zu machen.

Der erscheint dann auch pünktlich mit dreißigminütiger Verspätung um halb neun auf der Bühne, in einem lila Lichtdom performt er sitzend Anthrocene“. Eine fast sakrale Färbung hat das, die Bad Seeds halten sich in einem minimalistischen Hintergrund. „Jesus Alone“, der Pilotsong von Caves letztem Album „Skeleton Tree“, wirkt ungleich fasslicher, Cave bewegt sich in gleitenden Bewegungen über die Bühne, manchmal wird sein Gesicht live und in schemenhaftem Schwarzweiß auf der riesigen Leinwand hinter ihm und seiner Band sichtbar. „With my voice I am calling you“, beschwört er (in dieser Situation natürlich auch) das Publikum, dessen geballter Aufmerksamkeit er sich sicher sein kann – sehr angenehme Feststellung: Es werden kaum Smartphones in die Höhe gereckt.

Wenig später pflügt Cave wie ein nuklear-betriebener Eisbrecher durch alle Überreste noch nicht aufgetauter Stimmung: „Can you feel my heart beat?!“, ruft er während der intensiven, explosiven und lang ausgekosteten Darbietung des „Higgs Boson Blues“ den Zuschauern in den vorderen Reihen zu. „It goes bam bam bam bam bam!“ Wie ein exzentrischer Messias streicht er über die sich ihm entgegenstreckenden Hände. Auch während der folgenden Songs, den beiden „Oldies“ „From Her To Eternity“ und „Tupelo“, sowie einer mit einer gehörigen Ladung Dynamit versehenen Version von „Jubilee Street“ bleibt der „Prince of Darkness“ der Rockmusik im Eskalationsmodus: Dass er noch springen, noch schreien kann, daran lässt er keinen Zweifel: Den Notenständer befördert ein kräftiger Fußtritt in den Orbit, das Mikrophon wird hinterhergeworfen.

Dass sich Cave und die Bad Seeds auf ihr neuestes Album konzentrieren scheint niemandem sauer aufzustoßen – eine Greatest Hits-Show würde ihnen auch schlecht zu Gesicht stehen. Und abgesehen davon, dass Nummern wie der Badalamenti-hafte Tränengas-Ersatz „Girl In Amber“ oder „Distant Skies“ (der Gesangspart der dänischen Sopranistin Else Torp wird per Video-Einspielung eingebaut) sowieso keiner Rechtfertigung bedürfen, wird die Zuhörerschar mit den Must-Haves ja ohnehin versorgt: Während des „Ship Song“ darf Warren Ellis sich endlich solistisch an der Geige austoben; „You can sing along to this, if you like“, kündigt Cave einen der schönsten Love-Songs von Welt, „Into My Arms“, an – natürlich wollen wir alle! Und wo wir schon dabei sind, begleiten wir ihn noch auf einen „little walk to the edge of town“: „Red Right Hand“ wird in eine Sinfonie mit Paukenschlag verwandelt, die das Original blass aussehen lässt. Natürlich darf auch „The Mercy Seat“, der Nick Cave-Song schlechthin, nicht fehlen: In einer dramatischen Klimax nähert sich Cave „like a moth“ dem „bright light“, übertrifft damit sicher nicht wenige Erwartungen. Hier zeigt sich auch einmal mehr, wie frei sich der Sänger auf dem musikalischen Fundament seiner Band bewegen kann, die bei glasklarem Sound mit Leichtigkeit auch die spontanen Sprünge und Vokal-Neurosen ihres Frontmanns orchestriert.

Ähnlich wie Pink Floyds „Outside the Wall“ verströmt auch (das Lied) „Skeleton Tree“ diese traurig-erhaben-endgültige It’s over, it’s allright–Stimmung. Anders als Besucher von Pink Floyd bzw. Roger Waters dürfen Cave-ianer allerdings begründete Hoffnung auf eine Zugabe nach diesem Finale haben. Und die kommt auch: Dass die Band nach angemessener Jubel-Pause auf die Bühne zurückkehrt und den unvermeidlichen „Weeping Song“ anstimmt, mag weniger erstaunen als die Tatsache, dass Cave sich plötzlich mitten in der Menge, auf einem Absperrgitter balancierend, materialisiert. Dass er keine Berührungsängste hat, zeigt sich auch, als er zum zweiten Zugabe-Stück, dem vielfach geforderten „Stagger Lee“, die Zuschauer die Bühne stürmen lässt: Du wolltest schon immer mal, dass dir Nick Cave ins Gesicht brüllt, er krieche „over fifty good pussies just to get to one fat boy’s asshole“ und dich dabei auf einer Kino-haften Leinwand sehen? Tja, am Donnerstag wäre deine Chance gewesen…

Im Unterschied zum Rest des Konzerts, wo die Leinwand zumeist schlicht farbig angestrahlt war und selten untermalende und zurückhaltende Schwarzweiß-Aufnahmen und noch seltener Projektionen der spielenden Musiker zeigte, bestimmt ein live übertragener Nick Cave während der Zugabe dauerhaft und in Überlebensgröße die Bühne. Und hier wird deutlich, wie sinnvoll die Entscheidung war, auf dieses Mittel weitgehend zu verzichten: Denn dieser Mann ist ganz ohne Hilfsmittel fähig, eine Beziehung auch mit den entfernteren Winkeln des Publikums aufzubauen. Mag man auch sein Gesicht nicht genau erkennen, er ist ganz unzweifelhaft da. Die Leinwand zerstört diesen Effekt, versetzt die Musiker in eine hermetischen Konzertfilm-Raum.

Nick Cave bedeutet den Bühnen-Besetzern, sie mögen sich setzen, ein „Keep On Pushing“-Transparent wird hochgehoben, er setzt zum letzten Song des Abends an: „Some People say it’s just Rock’n’Roll / Oh, but it get’s you right down to your Soul“ – wie wahr, wie wahr.

Setlist: Anthrocene / Jesus Alone / Magneto / Higgs Boson Blues / From Her To Eternity / Tupelo / Jubilee Street / The Ship Song / Into My Arms / Girl In Amber / I Need You / Red Right Hand / The Mercy Seat / Distant Sky / Skeleton TreeZugabe: The Weeping Song / Stagger Lee / Push The Sky Away

Bericht: Tobias Jehle
Fotos: Ingo Höchsmann

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