Zu allererst: Nein, es handelt sich hierbei nicht um eine musikalische Version des bekannten Films der meistens um die Weihnachtszeit über die Bildschirme flackert. Es geht hierbei nicht um einen kleinen Jungen, der den Erwachsenen zeigt, was genau Menschlichkeit und Mitgefühl bedeuten. Stattdessen lässt Regisseurin Brigitte Fassbaender dem Publikum von einem Menschenaffen vorführen, wie das Spießbürgertum Weltoffenheit und Toleranz vortäuscht, während hinter verschlossenen Türen Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Kleinkariertheit regieren. Die Oper „Der junge Lord“ feierte am 23. Mai 2019 im Staatstheater am Gärtnerplatz seine Premiere und kann mit starker Botschaft und toller Ausstattung überzeugen.
In einem beschaulichen deutschen Städtchen wird auf hohen Besuch gewartet, denn es kommt ein echter englischer Lord – Sir Edgar. Die Aufregung ist groß, als Sir Edgar zwar erscheint, sich seinen sozialen Verpflichtungen gegenüber den städtischen Bürgern aber entzieht und lieber mit seinem Sekretär und seiner Dienerschaft in seinem Haus verweilt. Die anfängliche Freude über die neu errungene Internationalität weicht schnell offenem Misstrauen und Wut, da der Lord sich kontinuierlich weigert, an Empfängen, Bällen oder sonstigen Veranstaltungen teilzunehmen. Die sich zuvor noch als weltoffen und kultiviert gebende Bürgerschaft entwickelt in rasender Geschwindigkeit eine fremdenfeindliche und aggressive Haltung gegenüber den Neuankömmlingen. Als ein Wanderzirkus in die Stadt kommt und Sir Edgar sich die Vorstellung ansieht, wird den Artisten allein aufgrund ihrer scheinbaren Verbindung zum Lord das Leben schwer gemacht. Auch als man eines Abends seltsame Geräusche aus dem Haus vernimmt, versammelt sich eine misstrauische Meute um Aufklärung zu verlangen. Anstatt die Menge erneut wegzuschicken, lässt Sir Edgar durch seinen Sekretär ausrichten, dass er am sozialen Leben teilnehmen wird, sobald sein Neffe, der junge Lord Barrat, bereit ist, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Beim lang erwarteten Ball ist die städtische Gesellschaft sofort vom Charme und der offenen Art des jungen Lords begeistert. Seine Kultiviertheit wird von allen Seiten bewundert und seine frischen Manieren finden schnell Nachahmer. Als der junge Lord jedoch später über eine junge Dame herfällt und keinerlei fehlende Erziehung mehr als Ausrede gelten gemacht werden kann, enttarnt Sir Edgar den jungen Lord als verkleideten Affen. Die Gesellschaft ist entsetzt.
Zwischen Plastikflamingos und glitzernden Totenköpfen gibt es auf der Bühne zu jedem Zeitpunkt etwas Spannendes zu entdecken. Die detaillierte Hintergrundhandlung des Chor und Kinderchor des Staatstheater am Gärtnerplatz bietet zahlreiche Momente, in welchen man den Blick gerne von den Solisten abwendet und über die vielen anderen Figuren auf der Bühne schweifen lässt. Es spricht für die hervorragende Regiearbeit von Brigitte Fassbaender, dass trotz dissonanten Harmonien in der Musik von Hans Werner Henze und holprigen Formulierungen im Libretto der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann der Abend durchaus amüsant und unterhaltsam ist. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der Leitung von Anthony Bramall meistert Henzes Komposition mit Bravour und erntet verdient den größten Applaus des Abends. Stimmlich überzeugen die Solisten auch in den schwierigen Passagen und schauspielerisch glänzen vor allem Christoph Filler als Sir Edgars Sekretär und Ann-Katrin Naidu als hetzerische Baronin Grünwiesel.
Absolutes Highlight der Inszenierung ist jedoch die Ausstattung von Dietrich von Grebmer. Egal ob ausschweifende Kostüme, kunstvolle Wandbemalung oder das beeindruckende Model der Stadt, Grebmer hat eine perfekte Kulisse geschaffen, vor welcher die Eigenheiten der Spießbürger und die Scheinheiligkeit der elitären Gesellschaft aktuell und gesellschaftskritisch wirken können, ohne die Handlung unnötig zu aktualisieren oder in ein anderes Umfeld zu versetzten. Insgesamt ist „Der junge Lord“ eine unterhaltsame, wenn nicht gerade musikalisch harmonische Produktion, die mit viel Ästhetik und nicht wirklich verstecktem Humor punkten kann.
Kritik: Anna Matthiesen