„17:36 Uhr, Hotel Kraft“ steht auf der Eintrittskarte. Ungewöhnlich, für eine Inszenierung des Residenztheaters, dass sie einmal nicht in den Spielstätten des Staatsschauspiels stattfindet, sondern wenige Gehminuten vom Sendlinger Tor entfernt, mitten im Uni-Kliniksviertel. Angekommen im Hotel, wartet eine nette Dame, die einem Kopfhörer und die nötigen Infos übergibt. 18 Personen dürfen pro Vorstellung auf den Rundgang gehen, alle zwölf Minuten startet eine Person – immer nur eine, nie in Gruppen. Auf sich allein gestellt ist man aber nicht, die Stimme auf dem Kopfhörer weist einem den Weg, Statistinnen agieren als lebender Wegweiser in den Gebäuden. So die Ausgangslage bei der szenischen Installation „Playing :: Karlstadt“, in der man tief in die Seele der depressiven Liesl Karlstadt blicken darf – mal in Form von Karlstadt selbst, mal in Form ihres Geliebten, Karl Valentin.
Das Konzept ist zwar nicht mehr neu, aber immer noch absolut einzigartig: als einzelner Zuschauer mit einem einzelnen Schauspieler in einem Raum. Man muss reagieren, mindestens mit den Augen, maximal mit Worten und Gesten. Bernhard Mikeska, Regisseur des Künstler-Trios Raum+Zeit, lernt mit jeder Installation, jedem „Rundgang“, wenn man so will, dazu. So startet man nach kurzem Spaziergang in der Pension Mariandl in einem winzigen Zimmer. Aus dem Bad kommt Lilith Häßle, in Form von Liesl Karlstadt. Sie erschrickt sich. Und man selbst auch kurz – steht man überhaupt im richtigen Zimmer? Und was zur Hölle mache ich jetzt? Häßle startet ihren Monolog über Vorwürfe gegen Valentin, teils mit deutlichen Beleidigungen, die man über sich ergehen lassen muss, denn Valentin, das ist der Zuschauer, das ist man selbst. Antwortet man auf die etlichen Fragen, kann es gut sein, dass die Darsteller dementsprechend darauf reagieren. Mindestens aber erkennen sie Mimik und Gestik und bauen das in ihr Spiel ein. Was der Besucher danach zu sehen bekommt? Das wird anschließend nur er selbst wissen, niemand anderes.
Nächster Stopp: im Keller. Norman Hacker mimt Karl Valentin nach dem zweiten Weltkrieg, kurz vor (oder gar nach?) seinem Tod. Und man selbst wird zu Karlstadt. Anschließend geht es in die psychiatrische Uni-Klinik in den Hörsaal. Dunkel, leichtes Rotlicht, eine leise Stimme auf dem Kopfhörer, sonst: verlassen. Bibiana Beglau kommt hinter den Sitzen hervor, sie ist Karl Valentin, kurz nach Scheitern des finanziellen Ruin-Projekts von Valentin und Karlstadt – dem Panoptikum. Es spielt bereits nach dem Suizid-Versuch 1935, Karlstadt ist in psychiatrischer Behandlung. Und Valentin? Konfrontiert sie mit weiteren Schuldgefühlen, geht äußerst aggressiv vor. Beglau ist auch die einzige, die die Grenze des Körperkontakts überschreitet – einmal packt sie einem am Arm und lässt ihren Puls füllen, dann wieder packt sie den Zuschauer und springt ihn in der nächsten Sekunde aus dem Dunkel an. Die Berichte darüber, dass manche Besucher die Tour abbrechen, gar weinend das Szenario verlassen – spätestens jetzt wird es klar, warum. Aber letztendlich spricht auch genau das für die Darsteller: sie schaffen es, den Besucher so intensiv in ihre Rollen eintauchen zu lassen, dass sie selbst zur Verzweiflung kommen.
Final landet man bei Hannah Scheibe als älter gewordene Karlstadt. Sie konfrontiert Valentin mit den gleichen Fragen wie auch schon Häßle zu Beginn der Installation. „Wer bist du? Wo willst du noch hin?“ Irgendwann kommt man nicht mehr drumherum, sich diese Fragen selbst zu stellen. Und der große Auftritt, zu dem man geht? Worauf warten die Leute bei einem selbst? Warten sie überhaupt? Oder ist man selbst der, der wartet? Am Ende werden die Kopfhörer wieder eingesammelt und nach guten 60 Minuten wieder in das München anno 2019 entlassen. Jede Person, die dieses Projekt miterleben durfte, vergisst es nicht wieder. So viel ist klar. Ob es nachwirkt und man Antworten auf die Fragen wird? Das zeigt die Zeit.
Kritik: Ludwig Stadler