Ein russischer Abend – Nikolai Tokarev im Herkulessaal (Kritik)

| 0

Am 16. November 2018 war der Pianist Nikolai Tokarev mit dem ersten Klavierkonzert von Peter I. Tschaikowsky in München zu hören, begleitet vom National Philharmonic Orchestra of Russia unter der Leitung von Vladimir Spivakov. Mit genau demselben musikalischen Partnern hat Tokarev dieses Konzert bereits im Jahre 2009 aufgenommen und sich mit ihnen seitdem durch verschiedenste Konzertsäle gespielt.

Diese Vertrautheit schlägt sich deutlich im Zusammenspiel von Solist und Orchester nieder:  häufig ist das Klavier eingebettet in den sehr weichen Tuttiklang und erscheint gerade beim ersten Wiederaufgriff des Eingangsthemas wie ein weiteres Orchesterinstrument, das lediglich zur Erweiterung der Klangfarben dient. Diese Integration des Solisten ist meist sehr gelungen und lässt auch die einigen dialogartig gestalteten Stellen in der Hälfte des ersten Satzes nicht wie eine wütende Diskussion, sondern wie ein freundschaftliches Gespräch wirken.

Teilweise gerät das Orchester jedoch einige Nuancen zu laut und übertönt die höchst virtuosen Passagen des Klaviers, für die sich Tokarev somit fast „umsonst“ so angestrengt hat.

Doch spätestens in der Kadenz des ersten Satzes wird jedem Einzelnen im Saal bewusst, welch brillanten Solisten er/sie gerade vor sich hat. Perlende, kristallene Arpeggien einerseits, doch auch eine sehr natürliche Agogik in den lyrischen Phrasen der Kadenz. Kein Laut ist währenddessen im Saal zu hören – Tokarev schafft es mühelos, das Publikum mit einem einzelnen Ton still zu halten. Erst als das Orchester wieder behutsam einsetzt, entspannen sich die Zuhörer langsam.

Auf die letzten prachtvollen Takte des ersten Satzes folgt direkt ohne Pause das Andantino semplice, dessen erstes sangliches Thema von der Querflöte vorgestellt und dann vom Klavier aufgegriffen wird. Auch hier sind Pianist und Orchester ebenbürtig in der Dynamik, was dazu führt, dass die wunderschönen Melodien in den Streichern nicht wie bei einigen anderen Interpretationen verloren gehen.

Erneut schließen die Musiker das Finale attacca an den Mittelsatz an, was sozusagen einen instrumentalen Dauerlauf für sie bedeutet. Doch ungeachtet dieser Belastung wird in diesem Allegro con fuoco alles Temperament und Kraft herausgekehrt und das Klavier emanzipiert sich etwas mehr vom Orchester als das bisher der Fall war. Tokarev hat in diesem pompösen und überaus schweren Abschnitt noch einmal die Möglichkeit, seine akkurate Technik unter Beweis zu stellen – was er selbstverständlich mit Bravour tut. Durch sein fast Über-Betonen der Akzente zu Beginn des Satzes verleiht er dem Ganzen eine Würze, die in manchen „harmloseren“ Interpretationen fehlt. Ganz überraschend und erfrischend ist seine Gestaltung der donnernden Doppeloktaven, die das Ende des Satzes einläuten: Anstatt sie möglichst schnell und virtuos in die Tasten zu jagen, beginnt er ganz langsam und steigert sich in dieser Passage nach und nach bis zum „Schlusssprint“, nach diesem dann das Orchester zur prachtvollen Ausgestaltung des zweiten Themas hinzukommt.

Peter Tschaikowskys erstes von insgesamt drei Klavierkonzerten gehört zu den meistgespielten Werken dieser Gattung. Daher ist es selbstverständlich schwierig für jeden Pianisten, dem Werk seinen ganz individuellen Stempel aufzudrücken und etwas Neues in die Interpretation hineinzubringen. Doch Tokarev, Spivakov und dem National Philharmonic Orchestra of Russia gelingt das hervorragend: überraschende Tempowechsel und ungewöhnliche dynamische Gestaltung, gepaart mit einwandfreier Technik von Orchester und Solist – das belohnt der tosende Applaus, auf den Tokarev noch eine Zugabe hören lässt.

 

Die zweite Hälfte des Abends gehört Vladimir Spivakov und dem National Philharmonic Orchestra of Russia mit den „Sinfonischen Tänzen“ von Sergej Rachmaninoff. Dieses anspruchsvolle, breit orchestrierte Werk (u.a. mit Altsaxofon, Klavier und Glockenspiel) ist das letzte Werk des 1943 verstorbenen Komponisten. Einigen dürften Melodien aus dem ersten Satz bekannt vorkommen – diese werden nämlich von der Fernsehsendung Quarks & Co. als Erkennungsmusik verwendet…

Der Dirigent Vladimir Spivakov ist auf jeden Fall eine Klasse für sich. Er kommt klein, unauffällig, beinahe zerbrechlich auf die Bühne, doch sobald er den Dirigentenstab hebt, geht eine enorme Spannung und Ausstrahlung von ihm aus. Er leitet das Orchester (dessen Chefdirigent er überdies ist) mit einer Energie und einem Engagement, dass absolut verdienterweise ganze drei Zugaben vom begeisterten Publikum erklatscht werden, unter anderem der „Valse Triste“ von Jean Sibelius.

 

Fazit: Ein herausragender Abend ! Auch wenn man nicht jeden Ton von Nikolai Tokarev hören konnte – mit den übrigen hat er seine Qualitäten als Pianist hinreichend unter Beweis gestellt. In Vladimir Spivakov und dem National Philharmonic Orchestra of Russia hat er musikalisch wertvollste Partner, die einem Schlager der Konzerthallen neues Leben einhauchen können, aber ebenso als Klangkörper allein auf jeden Fall einen Besuch wert sind!