Totentanz auf schwarzem Plastik – „Les Vêpres siciliennes“ in der Staatsoper (Kritik)

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Erstmals kommt Giuseppe Verdis „Sizilianische Vesper“ im französischen Original auf die Bühne des Münchner Nationaltheaters. Mit „Les Vêpres siciliennes“ realisiert der mehrfach ausgezeichnete Theater- und Opernregisseur Antú Romero Nunes, nach Gioachino Rossinis „Guillaume Tell“, sein zweites Werk in der Bayerischen Staatsoper. Die Oper aus Verdis mittlerer Schaffensphase wurde in München – in der italienischen Fassung – zuletzt vor fast 50 Jahren gespielt.

© Wilfried Hösl

Das historische Ereignis des sizilianischen Volksaufstands in Palermo von 1282 gegen die französischen Besatzer nutzt Nunes einer Mitteilung der Staatsoper zufolge „als Versuchsanordnung dessen, was Menschen fähig sind zu tun“. Sizilien leidet unter der französischen Okkupation. Eine Widerstandsgruppe, angeführt von der Herzogin Hélène, dem Arzt Procida und dem Waisenkind Henri, will den lokalen Gouverneur Guy de Montfort stürzen. Doch als Henri erfährt, dass er der Sohn Montforts ist, vereitelt dieser den geplanten Anschlag, was seine Genossen in den Kerker bringt. Monfort zeigt sich voller neugewonner Vatergefühle versöhnlich und so sollen Hélène und Henri – als Zeichen der sizilianisch-französischen Versöhnung – heiraten. Eine Gesellschaft, die von Verrat und Unterdrückung dominiert wird. Der uruguayische Bassbariton Erwin Schrott singt in dem Drama über das französisch besetzte Sizilien zu Ende des 13. Jahrhunderts die Rolle des Arztes Giovanni da Procida. Am Pult des Staatsorchesters steht Paolo Carignani.

2018 ist es eine düstere verfallene Welt, deren Subjekte an der Schwelle zum Tod einzig auf Macht und Rache aus sind. Ein Nebel legt sich über die Agonie aller Beteiligten: das siechende Leben auf den Tod hin. Während der Ouvertüre taucht ein Junge mit oranger Rettungsweste auf. Vor einer im schwarzen Bühnenraum wabernden Plastikfolie tanzt er sich in diese wie in ein schwarzes Meer hinein. Soll das die junge Waise, der Bruder der Protagonistin Hélène, sein? Später wird er entdecken, dass der bluttriefende französische Gouverneur Montfort sein Vergewaltiger-Vater ist. Oder soll er, mit Schwimmweste als in den Wellen tanzendes Opfer, an die heutzutage ertrinkenden Flüchtlingskinder an Siziliens Küsten gedenken?

© Wilfried Hösl

Die Inszenierung besticht mit stimmungsvollen und beeindruckenden Bildern. Matthias Kochs schlichter Bühnenraum wird von den tänzerisch bebenden Wogen gewaltiger Plastikplanen durchzogen. Diese verwandeln sich in stürmische Fluten oder in den Bug eines Schiffes. Die simple Idee der Plastikplane entfaltet eine unglaubliche Wirkung. Auch die Lichtgestaltung Michael Bauers setzt klare Akzente. In diese ästhetisierte Abstraktion fügen sich die Kostüme von Victoria Behr: Sizilianer in Totenmaske stehen französischen Soldaten in den Farben der Trikolore entgegen. Karikativ verkörpern die französischen Besatzer Thibaut (Long Long), Robert (Callum Thorpe), Sire de Béthune (Alexander Milev) und Comte de Vaudemont (Boris Prýgl) ein dekadentes, postrevolutionäres Europa. Stimmstärke und Spielfreude wird ihnen ebenso verliehen wie den ihnen konträren Sizilianern Danieli (Matthew Grills), Mainfroid (Caspar Singh) sowie Zofe Ninetta (Helena Zubanovich). Gemeinsam mit dem galant auftrumpfenden Chor (Einstudierung: Stellario Fagone) bilden diese alle den stattlichen Rahmen für das wesentliche Figuren-Quartett. Als Procida schreitet Erwin Schrott in hervorragender Fassung mit goldener Rüstung über die Bühne. Vollends in der funkelnden Rolle bestimmt seine Darstellung einen elementaren Zug innerhalb der Konstellation. So ist es auch er, der am Ende des vierten Akts das ‚Ballett‘, beziehungsweise die große Überraschung, einläutet.

Nach der abschließenden Kadenz kracht auf einmal ein Lautsprecher, das Tableau im Freeze, das Licht wechselt abrupt und es beginnt ein außergewöhnlicher Techno-Totentanz. Ein tiefer Basston rauscht durch den hölzernen Parkettboden – der erste notorische Buhruf bricht seinen Weg durch die Reihen. Dustin Klein, selbst Mitglied des Staatsballetts, choreographiert subtile Präsenz, das Opernballett überzeugt durch kollektive Präzision. Sie tanzen als futuristisch apokalyptische Wesen. Die passenden Beats zu Verdis Musik kommen von Nick und Clemens Prokop. Herrlich zu beobachten, wie Dirigent Paolo Carignani, nun mit Kopfhörern, die ‚Sound Interference‘ auch im Dialog mit dem Orchester koordiniert und dirigiert. So fremd die elektronischen Klänge auch für Abonnement-Ohren sein mögen, dieser Performativität kann man sich nicht entziehen. Mit dem Aufgreifen des Originaltitels ‚Die vier Jahreszeiten‘ wird die immerkehrende Zerstörung, der ewig erbitterliche Zyklus von Leben und Tod zelebriert. Diese Einlage erfüllt in zeitgemäßer Weise genau den Zweck, den das Ballett in der Grand Opera hatte: eine kurzweilige, erfrischende Unterbrechung der Handlung. Insgesamt ein starker, bereichernder Moment der Inszenierung.

© Wilfried Hösl

Gesungen wird auf sehr hohem Niveau. Rachel Willis-Sørensen überzeugt als Hélène durch starke Bühnenpräsenz und eine enorm modulationsfähige Stimme. In den anspruchsvollen Höhen und Koloraturen ist sie ganz zu Hause. Erwin Schrott verleiht dem, auch durch sein schmuckes Kostüm strahlend wirkenden, Befreiungsaktivisten Procida raumfüllende, potente und martialische Bühnenpräsenz. Für einen musikalisch berührenden Moment sorgt Dimitri Platanias als Montfort in seiner Arie „Au sein de la puissance“. Am Schluss großer Jubel und deutliche Zustimmung für die musikalische Seite.

Was Nunes und sein Team verhandeln, durchdringt so viele Ebenen, dass es schlichtweg genial genannt werden muss. Keiner plakativen Mahnung bedarf es, um politisch zu werden, einzig einer durch und durch assoziativen Erzählweise, die ihre Aussagen dennoch kristallklar trifft. Und die sind unverrückbar in die Gegenwart eingeflochten. Wie feinfühlig, durch den Tanz Todeskampf und Lebenslust zugleich zu vermitteln. Wie intelligent, Sizilien als Projektionsfläche heutiger Konflikte genau damit aufzuladen, wofür es sowieso schon steht: für Mare nostrum und Triton, für das überlaufende Fass der Verantwortungslosigkeit. Was aber der eigentliche Geniestreich bleibt, ist die Musikalisierung dieses Konflikts: das Aufeinanderprallen von E-Musik und U-Musik, von schwelgerischer Opernmelodie und existenzialistischem Elektrorhythmus.

Kein Zweifel, Les vêpres siciliennes ist ein Prunkstück der Operngeschichte. Dieses Werk ist Verdis einzige auf Französisch komponierte Oper, die glanzvolle Verbindung der Grand Opéra mit der italienischen Operntradition. Ein gelungenes Meisterwerk, was dramaturgische und musikalische Raffinesse betrifft, mit subtilen Duetten, starken Chören und eingängigen Soli. Dem Zusammenwirken internationaler Stars in München danken wir eine sehenswerte und interessante Inszenierung.

Kritik: Carolina Felberbaum