Als „Ku’damm 56“ 2016 über die Bildschirme flimmerte, war ein Überraschungserfolg geschaffen. Ein beachtliches Millionenpublikum verfolgte den Dreiteiler um Ausbruch und Emanzipation in Berlin rund um die Nachkriegszeit. Zwei Fortsetzungen zog das Format nach sich – und nun auch den Sprung auf die Musical-Bühne. Original-Schriftstellerin Annette Hess hat den Stoff für die Bühne konzipiert, gepaart mit der Musik von Peter Plate und Ulf Leo Sommer. Corona hat das ganze Projekt zwar ordentlich verzögert, letztendlich kam es Anfang Dezember 2021 aber endlich zur Premiere im Theater des Westens. Der Stoff hat schon damals polarisiert und auch jetzt sorgt das Musical, auch aufgrund der Stoff-Auswahl, für ordentlich Aufsehen. Wir haben „Ku’damm 56 – Das Musical“ am 13. Januar 2022 besucht.
Bereits der Hauptsong „Berlin, Berlin“, der sich seit einigen Monaten durch die Gehörgänge schleicht, bleibt so stark im Ohr, dass man schon mit einem Summen das Theater betritt. Soweit eine wunderbare Basis, denn mit dem Start um 19:30 Uhr geht es auch gleich mit einem weiteren Musik-Kracher weiter: „Monika“. So richtig strukturiert ist der Anfang zwar nicht, aber nach einem etwas holprigen Start findet man sich in dem Konstrukt unzähliger Personen langsam zurecht. Alles dreht sich um Monika, die einfach nicht so recht ins Familienbild ihrer Mutter passt. Die Töchter der Familie Schöllack haben gute Hausfrauen zu sein und sich einen angesehenen Ehemann zu suchen – doch Monika ist für all das ungeeignet. Sie ist frustriert, will es dennoch ihrer Mutter Recht machen und wird infolgedessen Opfer einer Vergewaltigung durch den erniedrigten Waffenfabrikantensohn Joachim Franck. Ihre Flucht findet sie nur noch in der Rebellion – da kommt ihr der Lebemann Freddy und seine Affinität zu Rock’n’Roll nur genau richtig…
Vor allem musikalisch und inszenatorisch glänzt „Ku’damm 56 – Das Musical“ deutlich. Plate und Sommer schaffen einen Soundtrack, der einen gewagten, aber gelungenen Spagat von Rock’n’Roll, Pop, Musical und etwas Schlager schaffen. Dass sie aber eben aus dem Pop kommen, hört man immer wieder in den unbeschreiblich ohrwurmlastigen Refrains, die fraglos zu überzeugen wissen. Besonders außergewöhnlich: der starke Einsatz von Kopfstimmen. Natürlich braucht es dafür ein Ensemble, dass genau diese Art von Gesang, die zwar zur damaligen Zeit, nicht aber in der heutigen Musical-Landschaft üblich ist, auch interpretieren kann. Und das führt zum zweiten extremen Vorteil: das Ensemble. Das Casting der Rollen, explizit auch der Zweitbesetzungen, ist so stimmig und mächtig, wie man es zuvor kaum oder noch nie auf den Musicalbühnen gesehen hat. Egal ob Sandra Leitner als Monika oder Philipp Nowicki als Joachim – es ist authentisch, glaubwürdig und beachtlich gesungen. Hervorstechend gesanglich: Dennis Hupka als Wolfgang, der mit dem Lied „Ein besserer Mensch“ zudem die wohl mächtigste Melodie innehat. Chapeau!
1956 herrschen andere Töne, andere Sitten und andere Meinungsbilder. Deutschland hängt noch in den Kinderschuhen der Nazi-Verarbeitung, Frauen sind längst nicht gleichberechtigt. Auch wenn sich mittlerweile etwas tut, ist die Familie Schöllack das absolute Gegenteil davon. Und während die Geschichte rund um Monika und ihre immer mehr reifende emanzipierte Haltung, wie sie heute selbstverständlich ist, sicher bannt und Interesse weckt, sind es auch einige Neben-Handlungsstränge, die das erschreckende Weltbild nur rund 60 Jahre zuvor zeigen: Homosexualität wird mit Schock-Therapien zu heilen versucht, eine Vergewaltigung soll unter den Tisch fallen, denn Recht haben sowieso immer nur die Männer. Eine gräuliche Gänsehaut verursacht hier besonders das Lied des alten Waffenfabrikanten Franck: „Wenn Frauen fallen, dann fallen sie tief. Wenn Männer fallen, dann nur im Krieg.“ Es sind diese Momente, die man musikalischen würdigen möchte – aber Texten, denen man nicht zuklatschen will. Natürlich ist nichts von diesen Texten hier so im Jahr 2022 gemeint. Im Gegenteil, es wird immer wieder deutlich veranschaulicht, wie verkehrt diese Denkweise damals war, sei es mit überspitzten Dialogen oder eben überspitzten Texten. Monika, so scheint es, schlägt sich als einzige vernünftige Instanz durch einen Wald voller altertümlicher Überzeugungen und zügellosen Lebensstilen.
Am Ende sorgt das natürlich für eines: ein Stück, dass für den deutschen Musical-Markt überraschend politisch, überraschend ernst und überraschend deutlich ist. Natürlich hadert auch hier das Musical mit den problematischen Momenten der Vorlage, wie die ehrlich zunehmenden Sympathien Monikas für ihren Vergewaltiger, aber der Stoff geht distanzierter mit diesen Stellen um und bemüht sich, trotz aller Drastik, die Kritik der Fernsehauflage anzunehmen. Mit dieser großartigen Film bleibt am Ende vor allem eines: ein Musical, wie es in seiner Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit in den großen deutschen Theatern noch viel zu selten zu sehen ist.
Kritik: Ludwig Stadler