Die Auswahl der beiden das Solokonzert umrahmenden Orchesterstücke ist beinahe kompromittierend: Claude Debussys Ballettmusik „Jeux“ feierte seine Premiere nur einige Monate vor Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ im Pariser Théâtre des Champs-Elysées. Wobei „feiern“ hier das falsche Wort ist. „Jeux“ wurde schon zu Beginn nicht gut aufgenommen, kurz darauf stahl „Sacre“ ihm die Aufmerksamkeit und wurde zu allem Überfluss noch häufig zum Vergleich mit Debussys Werk herangezogen, wobei dieses meist den Kürzeren zog. Ein kleiner Trost mag gewesen sein, dass „Sacre“ zuerst einmal einen handfesten Skandal in der Musikwelt hervorrief. Dennoch, diese beiden kontrahierenden Stücke in einem Konzert aufeinanderprallen zu lassen, kann definitiv nur interessant sein.
„Jeux“ macht auch an diesem Abend des 21. März den Anfang. Über 60 verschiedene Tempobezeichnungen hat Debussy hineinkomponiert – und keine einzige wird unangenehm hörbar. Das Orchestre Symphonique de Montréal unter Kent Nagano spielt märchenhaft elegant und tänzerisch-leicht mit einer breiten Palette an Klangfarben. Vorherrschend ist ein flirrender Toncharakter, der gerade für Debussys Orchesterwerke typisch ist, doch immer wieder fahren dunkle, rauchige Streicherpassagen durch die schillernde Polyphonie und schaffen einen Hauch von Film-Noir-Atmosphäre. Besonders bemerkenswert ist das Pianissimo, zu dem Chefdirigent Nagano sein Orchester drosseln kann. Er schafft es, einen dreidimensionalen, fast haptischen Raum aus der Musik zu kreieren, durch das feinst nuancierte Spiel jeder einzelnen Stimme und dem koordiniert dynamischen (De-)Crescendo, das seine Interpretation so spannend macht.
Solokonzert an diesem Abend ist Camille Saint-Saëns‘ fünftes Klavierkonzert. Mag es gefälligkeitstechnisch vielleicht diplomatisch in Erscheinung treten, so ist sein Komponist doch keinesfalls ein Unbescholtener: Debussys Kompositionen bezeichnete er als „Scheußlichkeiten“, Strawinsky war für ihn ein „Verrückter“. Ein Programm voller Ressentiments also. Wie gut, dass diese konsequent ausgehebelt werden durch die vollendete Einheit, mit der Solist Jean-Yves Thibaudet, Kent Nagano und das OSM musizieren. Setzt Thibaudet mit der Vorstellung des ersten Themas noch ein beherztes Statement, so verschmilzt er als Solist im Laufe des Stückes mit dem Orchester. Er wechselt fließend vom Solo- zum Begleitinstrument, etwa wenn er die Flöten mit zurückhaltenden, weichen Arpeggien untermalt. Die teilweise überbetonten Akzente am Ende der (fast zentralen) Tonleitern zeigen aber doch immer: er ist präsent. Sein geradezu exzessiver Gebrauch des linken Pedals schafft oft tolle, feinsinnige Klangfarben. Bei den vollen Akkorden wird der Ton jedoch manchmal zu gepresst, er könnte gern ab und an noch offener strahlen.
Der orientalische Charakter des sogenannten „Ägyptischen Konzerts“ kommt spätestens im zweiten Satz unüberhörbar zum Ausdruck. Thibaudet kostet, stets rhythmisch sensibel, die fremden Harmonien und Tongirlanden voll aus. Der Kontrast zwischen den massiven Akkordschlägen und den nervös perlenden Tonleitern könnte eindrucksvoller und malerischer nicht sein.
Zu Beginn des dritten Satzes gerät das Orchester leider deutlich zu laut, um die spritzigen Rhythmen des Klaviers noch hörbar zu machen, sie gehen infolgedessen also bedauerlicherweise unter. Für einen kurzen Moment scheint der Zusammenhang der beiden Parts verloren, als sich keiner der beiden wirklich durchsetzen kann. Schnell ist diese Unstimmigkeit wieder beseitigt und das Konzert geht mit atemberaubend furiosen Oktaven zu Ende, die Thibaudet so unbeeindruckt wie virtuos ins Elfenbein schlägt. Zu seinen französischen Wurzeln bekennt sich der Wahlamerikaner anschließend mit Frédéric Chopins bekannter Nocturne opus 9 Nr. 2.
Nach der Pause folgt also Igor Strawinskys monumentale Ballettkomposition „Le sacre du printemps“, die bei ihrer Premiere zuallererst einmal Verwirrung, Wut und Handgemenge ausgelöst hat.
Das Stück erfordert Extreme, die Nagano liefert. Die Dynamik wird in beide Richtungen voll ausgereizt, der Klang variiert von homogen-weich zu schneidend in allen Schattierungen. Auch rhythmisch behält Nagano stets den Überblick, ein unheilvoller Puls wogt immer präsent unter den fast unüberschaubaren Stimmen, die Nagano aber mit Sinn fürs Detail herausarbeitet. Den berühmten Rhythmus der „Vorboten des Frühlings“ legt er sehr breit an, nur um gerade die Blechbläser scharf dazu abzugrenzen. Insgesamt eine äußerst temperamentvolle und lebendige Performance, bei der das OSM klar beweist, dass es nicht umsonst ein Klangkörper von Weltrang ist.
Als Zugabe gibt es noch, wie Kent Nagano mit breitem amerikanischen Akzent selbst verkündet, „ein sehr seltsames Waltz“, genauer: Maurice Ravels „La valse“, mit über zehn Minuten Länge ein sehr großzügiges Encore, aber eine mit viel Spielfreude dargebotene Wertschätzung von Naganos langjähriger Wirkungsstätte München.