Wahrheit oder Pflicht – „Ich hab noch nie“ in der Schauburg (Kritik)

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Ich hab noch nie, „Never have I ever“ oder „Flaschendrehen“ – wer kennt diese Teenagerspiele nicht? Eine Mischung aus Spaß und Anspannung, etwas von sich preisgeben oder den Daniel nebenan in fünf Sekunden auf den Mund küssen zu müssen. Begleitet von süßem und billigem Alkohol wie billigem Sangria oder Vodka mit Orangensaft. Da entstehen Suff-Freundschaften für einen Abend oder lustige Stories, die im Freundeskreis zur Legende werden. Genau in diesem Setting findet sich  „Ich hab noch nie“ von Nelly Winterhalder, das am 16. Juni 2021. in der Münchner Schauburg seine deutsche Erstaufführung feiert. Inszeniert von Katharina Mayrhofer, die in der Schauburg bereits mit der Inszenierung von „Untern Kindergarten“ punktete, stellt sich der Abend für ein Publikum ab 14 Jahren als eine Mischung der so unterschiedlichen Kultfilme  Lola rennt und  Hangover dar. Zum einen bewegt sich die Handlung ellipsenartig immer um den gleichen Abend, zum anderen versuchen fünf Freunde zu rekonstruieren, was in jener Nacht passierte, in der alle zu viel getrunken hatten.

© Cordula Treml

Das Problem ist alltäglich und doch tragisch, kommt tausendfach vor und ist dabei so problematisch: Unter Alkohol werden zwei Teenager intim. Hinterher ist nicht mehr klar, wie sicher die beiden sich bei ihrer Entscheidung waren. Diesem für Jugendliche so wichtigen Thema widmet sich Mayrhofer mit einem fünfköpfigen Ensemble auf flacher Spielfläche, die von Zuschauerplätzen umstellt ist. Bewundernswert ist die Ästhetik der Inszenierung: weder wird plump vorgespielt, was im Text passiert, noch völlig abstrakt und künstlich verfremdet angedeutet. Mayrhofer trifft mit dem Regiestil genau den Grad zwischen Erzähltheater und einem hohen spielerischen Anteil. Immer wieder wird der Text von Tanzeinlagen unterbrochen und das schwere Thema des Abends somit aufgelockert. Schnell zeigt sich in den gesprochenen Passage: hier wird keine eindeutige Gut/Böse-Geschichte erzählt. Das Stück wird den 1000 Perspektiven gerecht, die dieses Thema mit sich bringt.

Dazu trägt auch das Bühnenbild bei (Fiona von Bose): Die Bühne zeigt zwei Stromkästen und eine mit Graffiti beschmierte Streusandkiste. Es kann einerseits überall sein, kommt aber auch vielen bekannt vor. Im Laufe des Abends werden die Kulissen zu Podesten zum Tanzen, zu Kleiderschränken in Mädchenzimmern, aus denen der ‚kurze Rock‘ gezogen wird, zum Bett. Auch das Kostüm (Florian Buder) zeugt von guter Vorbereitung: zum einen sind die Outfits der fünf jugendlichen so zeitgemäß, dass sich junges Publikum damit identifizieren kann, zugleich sind die Outfit aber auch etwas zu übertrieben. Dadurch werden die Darsteller:innen zu Figuren und die Outfits zu Kostümen. Die Inszenierung lässt Raum für Imaginationen: das ist nur ein Stück, nur ein Beispiel, das könnte überall und zu jeder Zeit passieren.

© Cordula Treml

Bei diesem schweren Stoff auch als Darsteller:in genau den Grad zwischen Realismus und Verfremdung zu treffen, ist eine Mammutaufgabe. In den Szenen gemeinsamen Szenen, den Tanz- und Partyszenen, den zügigen Momenten, in denen alle schnell und viel sprechen, fließen die fünf absolut harmonisch zusammen. Sie wirken wirklich wie Freunde und man spürt, dass sich die Darsteller:innen untereinander sehr wohl und vertraut fühlen. Im Einzelnen gelingt dieser Spagat aber nicht immer. Soll Lucia Schierenbeck als beste Freundin und moralischer Beistand selbstbewusst und cool rüberkommen, wirkt ihr Spiel mit stampfenden Schritten und ruckartigen Bewegungen etwa zu energiegeladen und übertrieben. Helene Schmitt stellt sich in ihren Monologen der Herausforderungen, die Vielfalt der Gedanken zu äußern, die sich ein Mensch nach einer übergriffigen Erfahrung wohl macht. Da diese schon im Text sehr poetisch formuliert sind, wirken die Passagen im Vergleich zu den lockeren Tanzszenen gewollt virtuos. Auch Michael Schröder, der die Zerrissenheit zwischen Täter und unbedarftem Teenager verkörpert, wirkt in seinen Passagen noch nicht ganz im Einklang mit der Rolle.

Dennoch ist die Inszenierung in ihrer Gesamtheit sehr gelungen. Mit einer reichlichen Stunde Spielzeit hat der Abend auch eine gute Länge, um dieser kurzen Handlung mit komplexen Thema gerecht zu werden, ohne es in Grund und Boden zu diskutieren. Genauso kann ein junges Publikum Theater von seiner besten Seite kennenlernen. Aufregend und fürs Auge ansprechend, nachdenklich und kritisch, poetisch und energiegeladen zugleich.

Kritik: Jana Taendler