Sphärischer Feier-Abend – Hannah Weiss Group in der Unterfahrt (Kritik)

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„Normalerweise steht sie selbst nicht selten vor der Show auf der Bühne und darf Größen der internationalen Jazz-Szene ankündigen. Normalerweise ist aber auch nicht der halbe BMW-Konzern in der Unterfahrt anwesend“, erfährt das Publikum kurz vor dem Konzertbeginn um ca. 21:10 Uhr. Es ist Dienstag, der 12. November 2019, und die junge, frisch aus dem Studium in die weite und wilde Musikwelt entlassene Hannah Weiss darf mit ihrer Band erstmals die Bühne des namhaften Jazzclub Unterfahrt im Münchner Osten bespielen. Und das nicht ohne Grund. Die Wahl-Münchnerin ist Preisträgerin des durchaus angesehenen „BMW Welt Young Artist Jazz Award„. Schon bei Ihrem Abschlusskonzert im Februar 2019 begeisterte sie die Dozenten an der Musikhochschule mit ihrer Performance. Seit sie dann jedoch im Sommer die Auszeichnung erhielt, die Stadt und Konzern zu gleichen Teilen tragen, zeichnet sich langsam mehr und mehr ab, wie eine Karriere an Fahrt aufnimmt.

© Sophie Wanninger

Die Unterfahrt ist voll. Einige Menschen drängen sich an den Wänden und den Bars. Und gleich im ersten Song zeigt sich – alle Musiker wissen, was sie da tun. „To You My Love“ ist die Vertonung eines, wie sie sagt, alten und eigenen Gedichts, auf das ein sphärischer Gitarrenpart von Philipp Schiepek hinführt, der seine weiße Fender Stratocaster elegant und gekonnt durch den Abend lenkt. Die Gitarre ist programmatisch für das ganze Konzept der Band: keine große Hollow-Body, sondern eine Strat, wie Mark Lettieri von der Band Snarky Puppy, der übrigens mit seinem Trio auch erst unlängst die Unterfahrt beehren durfte – und auch kein klassischer Jazz, sondern Elemente von Pop, Fusion, Funk und elektronischer Musik. Hannah Weiss nimmt dabei die Rolle einer Art Singer-Songwriterin ein. In ihren Textungen verarbeitet sie Themen aus ihrem Leben, wie beispielsweise im Song „Mars“ die Lektüre eines Science-Fiction Romans zur Mars-Besiedlung,  in „Sing A Song“ eine (leider fürs Publikum im Bandkontext nicht erkennbare) politische Meinung, oder in „Maike“ die Bekanntschaft mit einer jungen Frau, die sie einst bei einem Musikvideo-Dreh der Whiskey Foundation kennen lernen durfte. Mit einem Vocoder und anderen Stimm-Effekten erzielt sie zudem ungehörte und musikalisch anspruchsvolle Klänge.

Die Hannah Weiss Group hat sich im Studium formiert. Bei der Vertonung unterstützt wurde die Frontfrau teilweise vom versierten Tastenspieler Sam Hylton, der an diesem Abend neben seinen Rhodes und einem Dave-Smith-Synth auch den Haus-Flügel der Unterfahrt bespielt. Im Song „Mars“ beweist Hylton großes kreatives Potenzial, wenn er nicht nur zwischen seinen Instrumenten wechselt, sondern auch stilistisches Können beweist, bis er den Song in einem Sci-Fi-Synth-Inferno enden lässt; die Rakete ist gestartet. Robin Jermer erinnert mit seinem langen, dunklen Haar und dem Kinnbart an Rush-Frontmann und -Bassist Geddy Lee. Jedoch ist es ein Precision- und kein Jazz-Bass, der den Großteil des Abends in seinen vermögenden Händen ruht. Nur zweimal nutzt er den großen Kontrabass, ist allerdings immer wieder auch am Bass-Synthesizer zu hören. Gitarrist Schiepek kann nicht nur sphärisch, sondern beweist gegen Ende des Konzertes mit einem fulminanten Jazz-Solo sein Können. Nicht umsonst gibt es dafür einen kräftigen Szenenapplaus aus dem Publikum. Doch der Solo-Star des Abends ist Moritz Stahl. Der stets konzentrierte Tenor-Saxophonist begeistert mehrfach mit einer atemberaubenden Artikulation, schnell wie Coltrane, gewitzt wie Parker oder Hawkins, die alle drei vermutlich schon gar nicht mehr zu den wesentlichen Vorbildern der jungen Jazzer-Generation zählen. Stahls herausragendes Merkmal ist außerdem das Effektboard, mit dem er sein Saxophon elektronisch verbunden hat, und das er von dezentem Hall bis hin zu großen Delay-Schleifen nutzt. Schlagzeuger Flurin Mück muss sich als begleitender Drummer wahrlich nicht verstecken, er baut solide und teils spannende Rhythmen. Nur in seinem Solo kurz vor der Konzertpause um 21:50 Uhr scheint er, vielleicht tagesformabhängig, verglichen mit den anderen Künstlern etwas unsicher oder unüberlegt.

Insgesamt handelt es sich um ein überaus gelungenes Konzert, das nicht verrät, dass die Musiker erst am Anfang ihrer Laufbahn stehen. Höflich bedankt sich Hannah Weiss nach der Pause beim Konzern für ihren Preis. Allgemein tritt die junge Frau überaus selbstbewusst auf, wirkt dabei auch authentisch und kann das Publikum sichtlich für sich gewinnen. Um 22:50 Uhr verlassen die Musiker schließlich unter tosendem Applaus die Bühne. Natürlich gibt es eine Zugabe. „Den Song konnte ich bisher nicht so richtig loslassen“, kündigt die Sängerin das Cover des US-amerikanischen Musikers an, das sie hierfür ausgewählt hat. Saxman Stahl und Schlagzeuger Mück dürfen die Bühne dazu leider nicht mehr betreten; und so spielt sich die Gruppe zu viert durch die sanfte Ballade, die reich musikalisch verziert wird. Um knapp 23 Uhr ist der Abend nach etwas weniger als zwei Stunden schließlich vorbei und die Musiker gesellen sich unter die vielen Bekannten und Freunde im Publikum zur verdienten Feier.

Wir wünschen Hannah Weiss, dass sie genau damit weitermachen kann, was ihr augenscheinlich eine Herzenssache ist – und dass sie und der BMW-Konzern bald nicht mehr überall in einem Atemzug genannt werden müssen.

Setlist: To You My Love / Trip / Mars / Maike / Sing A Song / No Moon At All / So You Stopped being here / Cliché (Jeff Parker Cover) / How Deep Is The Ocean / Trace – Zugabe: Between The Bars (Elliott Smith Cover)

Kritik: Thomas Steinbrunner