Die Zerschlagung der Monarchie in Bayern nach den Grauen des 1. Weltkriegs, die Versammlung von 50.000 Menschen auf der Theresienwiese zur Ausarbeitung demokratischer Rechte und das Ausrufen des Freistaat Bayerns – Jan-Christoph Gockel inszeniert in „Eine Jugend in Deutschland“ ein Stück Münchner Zeitgeschichte und feiert damit am 16. Oktober 2020 Premiere im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. „Nach dem Roman von Ernst Toller“ heißt es im Programm, aber das Stück ist vielmehr ein Konglomerat von Tollers Gesamtwerk. „Wir versuchen diesen ganzen Autor zu fassen, der sich permanent weigert ein Ganzes zu sein“, sagt Gockel in einem Podcast, der vor der Premiere erschien. Über Tollers autobiografisches Buch hinaus werden das Hoffen und Scheitern des Schriftstellers und Revolutionärs gezeigt – immer mit dem Blick auf das Jetzt, auf die Frage, was das mit uns heute zu tun hat. Ein Stück aufgeteilt in sechs Folgen, Aufführungsdauer 3½ Stunden, während denen man die Maske aufbehält. Das kann erst mal abschrecken, aber Gockel schafft es eine Dynamik zu erzeugen, die das Stück kurzweilig wirken lässt. Durch Überspitzungen, Verdichtung, das Durchbrechen der vierten Wand und Komik kriegt er die Kurve, um nicht zu moralisch zu sein.
Es ist die Geschichte von Ernst Toller, der nach seinen traumatischen Erfahrungen im Schützengraben des 1. Weltkriegs den Waffen abschwört und sich dem Sozialisten Kurt Eisner anschließt. Toller ist Revolutionsführer und Protagonist der Münchner Räterepublik, die sich nach dem Krieg bildete. Toller glaubt an die Utopie eines demokratischen Gesellschaftssystems. Diese Utopie zerbricht jedoch bereits nach kurzer Zeit. In „Eine Jugend in Deutschland“ rechnet er mit seinem eigenen Scheitern ab.
Schon vor dem Auftrittsbeginn laufen auf der Wand Filmclips der Schauspieler*innen ab, in denen sie unter anderem erzählen, was Jugend für sie bedeutet. Realität und Stück verschwimmen – ein immer wiederkehrendes Motiv. In Gockels Inszenierung spielen viele abwechselnd Toller – nicht nur das Ensemble selbst, sondern auch eine Puppe, beeindruckend geleitet von Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch. Bei Gockels Stücken nichts Ungewöhnliches: Zusammen gründeten sie bereits eine Kompanie. Aber es bleibt nicht nur bei der einen Puppe: In der ersten Folge sitzen den Schauspieler*innen nachempfundene Puppen auf Schulbänken. Sie sind leblos, aber nur solange bis die Schauspieler*Innen für sie sprechen. Später werden sie an die Schuhe geschnallt und werden dadurch zum Leben erweckt. Die Kriegsgrauen im Schützengraben werden anhand der Puppen erzählt. Das wird besonders eindrücklich, als sich eine Halbwand als Bühnenelement dreht und die Puppen immer weiter zerstückelt werden, einzelne Gliedmaßen rumliegen, weil sie Opfer der Kriegsgewalt geworden sind.
Die Dynamik im Stück wird durch verschiedene gestalterische Elemente erzeugt. Unter anderem mit Live-Musik und Geräuschen, die die Handlung das ganze Stück über begleiten. Das setzt Akzente: Mal ist es etwas Klavier-Geklimper, mal ein Akkordeon oder später ein Schlagzeug. Dadurch ist ein Rahmen gesetzt, ein Tempo, das geschaffen wird. Dieses Tempo ist noch stärker in der zweiten Hälfte nach der Pause zu spüren. Zum Beispiel, wenn ein schwarz-weißer Stummfilm abgespielt wird, in dem Gro Swantje Kohlhof großartig gleich fünf Rollen übernimmt, unter anderem die von Anton Graf von Arco auf Valley, der Kurt Eisner ermordete. Es ist wie ein Reinlugen hinter verschlossene Türen, wenn man die Szenen aus einem Hotelzimmer sieht, in der ein weiteres Vorgehen des Schützen besprochen wird. Gro Swantje Kohlhof macht live dazu eine Synchronisation, die entlarvend ist. Dadurch werden die Figuren urkomisch, aber nicht klamaukig, denn der Kern ist ein ernster und leider keiner, der nicht heute noch präsent wäre. „Das sei ja nur ein Einzelfall“, fällt als Satz, der auch heutzutage im Kontext rechtsextremer Gewalt herumschwirrt. Die vierte Wand wird wieder gebrochen: Im Hotel Vier Jahreszeiten, in dem die Hotelbesprechungen eigentlich stattgefunden hatten, hätte man den Film nicht drehen dürfen, „da wollte man sich nicht mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen“. Der Bezug zu heute wird deutlich. Die antisemitischen Figuren des Films tragen „Fck Nzs“-Sandalen. Das ist zwar nicht subtil, aber funktioniert gut als Bruchelement.
Auch eine Liveschalte ist beeindruckend von André Benndorff als Ernst Toller, in der er außerhalb der Kammerspiele einen Flugzeugabsturz simuliert. Als Zuschauer*in sieht man eine Video-Liveübertragung auf der Bühnen-Rückwand. Erst beim zweiten Versuch zu fliegen wird ihm klar, dass er vielleicht gar nie geflogen ist. Der Flug als Symbol der Revolution – sie ist gescheitert, war vielleicht immer nur eine Illusion. Während der Schalte sind auch die Personen zu sehen, die normalerweise versteckt bleiben: Verantwortliche für Ton und Souffleusen. Hier werden sie Teil der Inszenierung, die Realität wird als Teil des Stücks.
Zum Ende hin landet Toller in einer artifiziellen Zukunftswelt. Alles ist schrill, bunt und laut – er weiß gar nicht mehr, wie ihm geschieht. „Übertragung aus der Hölle“, heißt es nach Karl Valentin. „Warst du wirklich so dumm und hast geglaubt, dass ihr das schafft?“, wird der aus dem Gefängnis entlassene Toller gefragt. Er wirkt resigniert. Toller selbst nahm sich mit gerade mal 45 Jahren das Leben. Die Revolution, an die er geglaubt hatte, war gescheitert. Die Inszenierung von Gockel schafft es, den Bogen in die Jetztzeit zu spannen. Was steht hinter Revolutionen? In diesem Stück gibt es Antworten darauf.
Kritik: Katharina Holzinger