Textschwall in großer Kulisse – „Herz aus Glas“ im Marstall (Kritik)

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Schon die Fotos auf der Website und dem Instagram Account des Residenztheaters versprechen viel von diesem Premierensamstag, dem 3. Juli 2021 im Marstall. Als Textvorlage dient das 1976 erschiene gleichnamige Drehbuch „Herz aus Glas“, daraus hat Elsa-Sophie Jach nun mit einem siebenköpfigen Ensemble einen fulminanten Abend entwickelt.

© Sandra Then

Die Figuren teilen sich dabei in ‚das Dorf‘ und ‚den Seher’, wie bereits das Kostüm erkennen lässt. Die Dorfbewohner erinnern mit aufgetürmten Perücken und Spitzenkragen in Kombination mit verwahrlost wirkenden bunten Jogginganzügen an das Video von Falcos „Rock Me Amadeus“. Ihre Einheit wird noch deutlicher durch den chorischen Sprech, mit dem sie den Romantext vortragen. Heraus sticht eine unauffällig in schwarz gekleidete Pia Händler als Seherin; was in der griechischen Antike Teiresias oder Cassandra heißt, ist in diesem Text der Hias.
Verstärkt wird die Hellsichtigensymbolik durch eines der Fenster im gigantischen Kulissenhaus (Marlene Lockemann), die Form eines (allsehenden) Auges annimmt.

Mit Samuel Wootton als Live-Musiker mitten im Bühnenbild beginnt der Abend voller Erwartungen, beim ersten Schlag auf die Pauke werden die Türen von innen aufgerissen und die pompösen Kostüme kommen das erste Mal zum Vorschein. ‚Das wird groß‘, mag man da schon denken. Die Inszenierung jedenfalls enttäuscht diese Erwartungen nicht. Bühnenbild und Darsteller verschmelzen im Laufe des 90-minütigen Abends immer wieder zu umwerfenden Bildern zusammen, die Musik schafft Spannung und Höhepunkte und die Prophezeiungen des Hias lassen das eine ums andere Mal Gänsehaut und Endzeitstimmung aufkommen. Ästhetisch ganz ganz groß! Und inhaltlich? Wer das Märchen vom Kalten Herz – eine Schwarzwaldlegende – kennt, der möchte einige Parallelen erkennen.

© Sandra Then

Beide Handlungen verorten sich in einem von der Zivilisation abgeschnittenen Mikrokosmos. In „Herz aus Glas“ verstirbt der fachkundige Glasbläser, der Garant für den örtlichen Wohlstand und das Dorf dreht durch. Wo im Kalten Herz ein kleines Männlein der Ursprung des Übels ist, so ist es im „Herz aus Glas“ der Seher, der warnend von Außen einwirkt. Beide Handlungen werfen existenzielle Fragen auf: Wie viel sind uns Moral und Kameradschaftlichkeit wert? Wie sehr verlassen wir uns auf eine schicksalhafte Verheißung, auch wenn sie Leid und Entbehrung bedeutet? Ist ein Seher verpflichtet, seine Visionen zu teilen, auf das Risiko hin, für deren Eintreten verantwortlich gemacht zu werden?

Dieses große inhaltliche Potenzial und diese ästhetische Kraft finden in „Herz aus Glas“ nicht so richtig zusammen, wie es möglich wäre. stattdessen wird der Text einfach vorgetragen. Chorisch? Musikalisch untermalt? Ästhetisch extrem ansprechend? Ja, ja, ja! Doch Inszenierung und Text befruchten sich nicht gegenseitig, sondern scheinen nebeneinander zu stehen. Das ist schade, weil das Publikum, obwohl Kostüme, Licht, Musik, Bühne und Darsteller so viel bieten, etwas ratlos zurückbleibt, mit der großen Frage: Was sollte uns das jetzt sagen? Der Hias,die Greta Thunberg von damals? Schade, dass dieser tollen Idee nicht mehr Raum gegeben wurde. Es scheint, als hätte der Verlag zu 100% Texttreue verpflichtet. Das ist am Ende etwas bedauerlich, steckt doch thematisch so viel Potenzial in der Vorlage. Die Inszenierung ist zu gut, um den Text einfach nur runterzubeten.

Kritik: Jana Taendler