An ein großes, vielleicht übergroßes, aus der Welt hinausragendes Thema wagt sich die Inszenierung, welche am Sonntag, den 6. Juni im Residenztheater Premiere feiert, heran: An den »Dekalog«, die zehn dem Menschen göttlich mitgegebenen, aufgebürdeten, geschenkten, aufgebrummten Gesetze, die ein Teil des theaterfrohen Publikums, das sich an diesem Abend eingefunden hat, sicher auswendig aufzählen kann, wenn auch vielleicht im selben Sinne, wie das Einmaleins, die Keilerei bei Issos oder die Unzertrennlichkeit von ›s‹ und ›t‹.
›Was kann uns die Bibel, das alte Testament, die Tora heute noch sagen?‹ – ein solches müßiges Fragen, das ein am scheinbar unhinterfragbaren Normal des heute übersattes Uns impliziert, das sich müßig dazu herablässt, Dokumenten anderer Epochen und Völker den zweifelhaften Adel der Aktualität zuzubilligen, soll der Stern nicht sein, unter dem die Inszenierung von Calixto Bieito steht. Diese stellt eine Adaption der zehnteiligen Filmreihe gleichen Namens des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski dar. Als solche hat sie nicht etwa die biblische Erzählung vom Berge Sinai zum Thema, sondern zehn Lebens-Geschichten, Situations-Strophen, in denen je eines der Gebote Widerhall findet, die aber nicht Erzählungen göttlicher Weisung und menschlichen Gehorsams, sondern der Ratlosigkeit, des Scheiterns, der Hoffnung sind.
Die sich aus beweglichen Projektionsflächen (Bühne: Aida Leonor Guardia) und einer großen, rotierenden Schauspielergruppe immer wieder neu aufbauenden und zusammensetzenden Szenen skizzieren Dilemmata, Krisen, Problemlinien, entlang der Themen des Dekalog: Treue und Untreue, Vertrauen und Verdacht, Glauben und Unglauben, Gier und Altruismus, Liebe und Eifersucht. Es wird gemordet, begehrt, gezürnt und gelogen. Immer wieder offenbaren sich die narbigen Stränge, an denen Leben entlang laufen, das, worüber nicht hinwegzukommen ist, das, was eine menschliche Existenz mit einem gewissen Trotz als das ihrige Scheitern und Gescheitertsein behaupten kann oder muss. Ausblicke auf: immer wiederkehrende Schwäche, die Erniedrigung vor dem eigenen Selbstbild, die geliebten, verhassten Zeugen dieser Erniedrigung, die Beziehungsgeflechte, aus denen sich zu lösen unmöglich ist – machen die starken Seiten dieser Inszenierung aus.
In ihrer ganzen pausenlosen Länge betrachtet aber ist ein hohes Maß guten Willens vonnöten, um diese guten Seiten nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Umsetzung der einzelnen Erzählskizzen wirkt oft einfallslos und hölzern. Aus dem Konkreten ergibt sich keine Spannung, kaum eine Einsicht. Das übergeordnete Thema fungiert nicht als Spiegel, in dem sich ein Blick auf die eigene, jetzige Daseinsweise erhaschen ließe, sondern dient vornehmlich als Aufhänger für ein recht fades Konzept: Man ertappt sich alsbald beim Gedanken, wie viele Gebote wohl noch ausstünden. Es ergibt sich ein ungutes Pendeln zwischen filmgenauen Dialogszenen und dem Versuch, eine höhere Abstraktionsebene einzuziehen, wodurch das eine wie das andere zweidimensional, untief gerät.
Einerseits also verfügt »Dekalog« durchaus über eine rätselhafte Plastizität, steht sich aber oftmals selbst mit der Leblosigkeit eines moralphilosophischen Gedankenexperiments im Wege. Die Ver- oder auch Zer-fleischung der Worte gelingt nicht recht.
Kritik: Tobias Jehle