»Mittels Druck und Körperwärme wird aus unserer Konfusion eine Kernfusion – und ungeheuer viel Energie wird frei«, sang Blixa Bargeld 1989. Falk Richters Stück Touch, das am 8. Oktober 2020 unter seiner Regie in den Kammerspielen uraufgeführt wurde und damit zugleich die neue Spielzeit und die Intendanz von Barbara Mundel offiziell einleitete, beschäftigt sich mit der Frage: Was, wenn »Druck und Körperwärme«, was wenn Berührung zu einem Ding der Unmöglichkeit wird? Was passiert dann mit unserer Konfusion, in der so ungeheuer viel Energie gebunden zu sein scheint?
Die Situation, in der Berührung um jeden Preis vermieden werden soll, ist natürlich die Corona-Pandemie, die den kaum verhohlenen thematischen Ausgangspunkt des Stückes bildet. Handungsort: Ein Raum (Bühne: Katrin Hoffmann), in dem sich die (Lebens-)Realität manifestiert, in dem jedes Individuum auf seiner Scholle, seiner vom großen Ganzen losgebrochenen Eisscholle haltlos treibt, in dem diese Realität aber in Virtualität gebannt bleibt, eingefasst in himmelhohe Lochplatten, auf denen Schaltkreise wuchern. Eine Virtualität, die durch das Kontaktverbot, durch das Einschließen einer/s Jeden in durchsichtige Plastikhüllen, vervollständigt wird.
Darin, dass die coronabedingten Veränderungen in unser aller Lebensrealität nicht als absolute Erscheinungen, sondern als Radikalisierungen oder Verfestigungen von Tendenzen dargestellt werden, die auch zuvor schon unseren Umgang miteinander prägten, besteht eine Stärke von Touch: Individualismus, wenig echter Kontakt, Angst und Ratlosigkeit angesichts des Anderen, Unfähigkeit zu Nähe, Öffnung, Berührung, sind nicht erst durch Corona Teil unseres Lebens geworden, sondern sind durch die entsprechenden Maßnahmen nur in den Stand öffentlicher Verordnungen erhoben worden.
Diese Dialektik von Nähe und Distanz kommt in den von Anouk van Dijk entworfenen Choreographien luzide zum Ausdruck. Allgemein gelingt der Inszenierung die Integration von Tanz und Schauspiel auf beeindruckend organische Weise; fast unmerklich, aber doch klar ersichtlich übernimmt die Choreographie mal eine inhaltlich tragende, mal eine unterstützende Rolle.
Die über den aktuellen Anlass hinausweisende Perspektive ist allerdings nicht von Anfang an erkennbar: Das erste Drittel des Stücks wirkt allzu oft wie eine Umsetzung von »Komm, wir machen mal was zu Corona!«. Erst im weiteren Verlauf bricht die Inszenierung durch zur größeren Konfusion, die derjenigen aus aktuellem Anlass zugrunde liegt. Zunächst aber ergeht man sich in assoziativen Berichten und Dialogen, die um die Achse Social Distancing und Lockdown kreisen. Obwohl ohne besonders explizit gemachten Zusammenhang, ist es leicht, dem Geschehen zu folgen, stellt es doch ein ein Wiederkäuen längst zu Tode besprochener Themenfelder dar: Sind die Maßnahmen gerechtfertigt oder nicht, was macht das mit uns, was bringt uns durch diese Zeit, wie ertragen wir das Alleinsein, wie die mediale Dauerbeschallung, worüber denken wir nach, zum Nicht-Handeln gezwungen? All das klingt wie ein Echo aus längst vergangener Zeit (d. h. etwa April bis Juni 2020) und offenbart sich erst nach und nach als Teile einer größeren Kollage der Ratlosigkeit.
Noch ein Schlenker in eine Zukunft, aus der die Coronakrise als Umschlagpunkt, als Anfang vom Ende der Herrschaft der weißen Boomer-Generation, der über ihrer eigenen Angst der Planet aus den gierigen Fingern rutscht, vorgestellt wird, – eine Vision, die durch die ›ewige Marie Antoinette‹ relativiert wird, also durch die Verkörperung dessen, was die Menschheit niemals in ausreichendem Maße aufbringen kann, nämlich Empathie – damit ist der große Bogen geschlagen: Vom individuellen Erleben der Lockdown-Maßnahmen hin zur Frage, wie sich die Pandemie als geschichtliches Ereignis erweisen wird: Als Peripetie, als Auftakt eines Umschwungs, der all den alarmierenden Entwicklungen der Gegenwart doch noch eine Wendung weg vom Abgrund geben kann, oder als »just another brick in the wall«, als weiterer Schritt auf dem Weg in eine dystopische Zukunft.
Doch Richters Inszenierung hält sich von jeder Stellungnahme zurück: Die Inhalte, aus denen sich die Kollage zusammensetzt, treten als Verweise oder Allgemeinplätze auf, aus dem endlosen Pool an Meinungen und Geschwätzigkeiten, der um das Etwas namens Corona-Pandemie zusammengeströmt ist, bedient sich Touch, um schließlich bei sich selbst anzukommen: das höchstens halb gefüllte Schauspielhaus, die Schutzabstände zwischen den Zuschauern lassen niemals vergessen, dass es sich hier um ein Stück über die Corona-Pandemie während der Corona-Pandemie handelt. Der Lockdown kam und ging, kommt vielleicht wieder, wie es weiter geht, ist ungewiss. Touch hat denselben Effekt, wie ein Wort so lange zu wiederholen, bis man nicht mehr sicher ist, was es bedeutet, nicht einmal mehr sicher ist, ob es dieses Wort überhaupt gibt: Einen Gegenstand aus so vielen verschiedenen Perspektiven betrachten, bis gänzlich fraglich wird, um was es sich eigentlich handelt. Nur dass da etwas ist, etwas, das uns drückt, eine energiegeladene Konfusion, eine der Normalität tief eingeschriebene Dissonanz, für die die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Erlebnisse nur ein Ausdruck sind, eine Dissonanz, die aber an einem solchen geschichts- und damit veränderungsträchtigen Ereignis besonders fühlbar werden kann. Für das Etwas, in dem wir alle stecken, ohne sagen zu können, gibt es wohl keinen redlicheren Ausdruck, als durch die Selbst-Aufhebung des Geredes erzeugte Ratlosigkeit, wobei man der Inszenierung attestieren muss, diese Selbst-Aufhebung auf eine meist kurzweilige, wenn auch nicht immer zwingende, manchmal gar zu naheliegende Weise erreicht zu haben.
Am Ende bleibt nichts als die manifest gewordene Ratlosigkeit; am Ende der Worte bleibt nur das Geräusch – um noch einmal Blixa Bargeld zu zitieren: ein »völlig leerer Himmel angereichert mit Musik«: This Mess We’re In. Wie passend.
Kritik: Tobias Jehle