„Was ist (uns) der Mensch?“ – mit dieser Frage als Leitstern startet das Residenztheater mit seinem neuen Intendanten Andreas Beck in die erste Spielzeit. Und eines steht fest: „Die Verlorenen“, mit welchem Stück am Samstag, den 19. Oktober ebendiese Spielzeit eröffnet wurde, wirft sich mit Anlauf in diese Frage hinein, diese dumme Frage, deren Antwort man doch längst auf Wikipedia oder im Journal der sogenannten Lebenserfahrung nachschlagen kann, oder die zu stellen der Zweckrationalität des behaglich getakteten Überlebenskampfes widerstrebt.
Auf das Leben, das Menschsein reflektieren lässt sich vor allem dann, wenn selbiges ins Stocken gerät, gehemmt ist in seinem selbstverständlichen Fließen. Ewald Palmetshofers als Auftragswerk entstandenes Stück ist bestimmt von Momenten des Innehaltens, des Übermanntwerdens in Zeiten der Kraft- und Schlaflosigkeit: Die Provinztankstellen-Angestellte, die mit dem Kasten Leergut in der Hand verharrt und feststellt: „Das Leben ist die Mühsal, seinen Endzustand hintanzuhalten“.
Die Protagonistin Clara (Myriam Schröder) jedoch wird nicht nur heimgesucht von hoffnungslosen Meditationen über die eigene verfahrene Existenz, sondern unternimmt auch den Versuch, sich dieser ihrer Existenz als unter anderem Wochenendmutter ihres entfremdeten Sohnes Florentin (Carlo Schmitt) einmal bewusst zu stellen. Sie will sich auf „Klausur in einem Haus am Wald“ begeben, meldet sich ab, bei Ex-Mann (Florian von Manteuffel) nebst neuer Frau (Pia Händler), den Eltern (Sibylle Canonica, Arnulf Schumacher), der Tante (Ulrike Willenbacher) und macht sich auf ins Hinterland, wo es einen Club namens „X-perience“ und eine „Tanke mit Buffet“ gibt, bevölkert von schattenhaften, verzweifelt geschwätzigen Gestalten: „Die Frau mit dem krummen Rücken“ (Nicola Kirsch), „Der alte Wolf“ (Steffen Höld), „Der Mann mit der Trichterbrust“ (Max Mayer), der junge, woher/wohin-lose Kevin (Johannes Nussbaum), in dem Clara sich seltsam gespiegelt erkannt sieht.
Doch diese Gesellschaft der Müden, Abgehängten, zweifelnd Verzweifelnden bildet keinen „Loser’s Club“, keine Selbsthilfegruppe. Zu sehr ist einer dem anderen ein Bild der eigenen Enttäuschung, zu schüchtern zucken sie vor der Hoffnung zurück, in den Zynismus, das Geplapper um die Stille nicht zu hören. Und als sich doch, zwischen Kevin und Clara, eine unbeholfene, zarte Öffnung andeutet, ist es zu spät: Wo die Selbstverständlichkeit des Lebens abhanden kommt, tritt das Tierische ein, verliert seine Scheu vor dem, was man gewohnt ist, menschlich zu nennen. Das Tierische, in Gestalt des eigenen Kindes, voller Lust am Quälen und Abscheu vor der zerbrechlichen, zerdachten Mutter („ich hasse/schwach/man muss sich für die Zukunft vorbereiten/sagt der Papa immer“), bringt Clara ins Grab, oder auch: ins Nichts, wie Text und Bühnenbild nicht müde werden zu betonen. Die monochrome Bühne (Irina Schicketanz), deren vier geneigte Seiten den Rahmen bilden für eine einzige weiße Hintergrund-Fläche, auf die nichts projiziert oder gemalt wird, die nur eine Zeit lang mit einem Kreuz behängt ist und die alsbald den Blick freigibt auf die große schwarze Leere dahinter, ist eine eindrucksvolle Kulisse, der zum einen keine unmäßige Mitteilsamkeit zugemutet wird, deren Geschichte sich andererseits aber auch schnell erzählt hat.
Dies ist ein Problem, das zu einem gewissen Grad auch sowohl Palmetshofers Text als auch die Inszenierung Nora Schlockers aufweisen: Es besteht immer wieder Anlass zum Schulterzucken, zum Konstatieren eines weiten, aber übersehbaren Feldes. Ein Großteil des Publikums zieht es offenbar vor, sich über die kraftlosen Wortgefechte der Tankstellen-Stammkunden zu amüsieren, die Mechanismen zur Verdrängung der wie ein Schreckensgott angerufenen „allmächtigen Verzweiflung“ realisieren sich in Echtzeit im voll besetzten, aber, wie es scheint, zur Halbzeit noch nicht voll überzeugten Residenztheater. Manchmal wünscht man sich Palmetshofers starken Text, der mit seinem unwiderstehlichen Rhythmus eine erstaunliche Symbiose von authentischer Umgangssprache mit einer durchkomponierten lyrischen Unterströmung zustande bringt, mit überlebensgroßem Ernst auf einem vor Wichtigkeit und Kunst! triefenden Poetry Slam vorgestammelt, anstatt ihn wie hier pragmatisch-realistisch, situationsbezogen vorgetragen zu hören. In ihren beigen Mäntelchen der Normalität verhandeln die Figuren selbst ihre tiefste Angst, ohne je aus der Modulation des oberflächlichen Umgangs herauszufallen. Erfolgreich schützt man die Inszenierung so davor, prätentiös zu wirken, jedoch entsteht ein unscharfes Bild, gerade der Clara selbst: Wenn weite Teile der Handlung an verfilmte 20-Uhr-15-Narrative über die Problemchen der Mittelklasse erinnern, da die Erbärmlichkeit und das Elend sich nur aus dem Off, dem unbewusst angesetzten Rahmen der Normalität kundtun, droht Claras Versuch zu verblassen, eben diesen Rahmen hin zu dem, was eigentlich Menschsein ausmacht, zu durchbrechen, drohen die verhandelten Schicksale ihre Anbindung an die Situation des Menschen zu verlieren.
Im bewusst unspezifisch gehaltenen Spiel und Outfit überzeugt das ganze Ensemble bei der Darstellung irgendwelcher Mütter, Väter, Ex-Männer und Stiefmütter, Jung- und Altmänner, einfacher und komplizierter gestrickter Leute, deren Biographien ganz in ihrer Normalität (und auch in ihrer ein wenig zu stereotypen Aufmachung) auf- bzw. untergehen, und aus und in deren Mitte unvermerkt das Abnorme, Ungeheuerliche aus- und einbricht.
Es lohnt sich, diesem Ringen mit der Anekdotisierung des Daseins bis zum bitteren, und mit verdientem, anhaltendem Applaus belohnten Ende beizuwohnen.
Kritik: Tobias Jehle