Der eine macht mich zum Hund, der andere zum Gott – „Amphitryon“ im Residenztheater (Kritik)

Die Zuschauer, die am 21. Novemberabend 2019 zur Münchner Premiere von Heinrich von Kleists „Amphitryon“ im Residenztheater Platz nehmen, sehen zunächst einmal: sich selbst, in einer bühnenweiten, schräg herabhängenden Spiegelwand; und mit etwas Winken gelingt auch das Erkenne dich selbst ganz ordentlich.

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© Sandra Then

Erkenne dich selbst – der delphischen Aufforderung müssen – auf eine ganz verquere Art – auch Amphitryon (Florian von Manteuffel) und Sosias (Nicola Mastroberardino) nachkommen, die heimkommend aus dem Krieg sich durch Doppelgänger ersetzt finden. Zeus/Jupiter (Christoph Franken) und Hermes/Merkur (Elias Eilinghoff) haben die Plätze des Thebanerfeldherren und seines hasenfüßigen Dieners eingenommen, denn: Der Göttervater hat es auf Amphitryons Gattin Alkmene (Pia Händler) abgesehen – ob dabei die Samenlegung für den Halbgott Herakles oder die dieselbe begleitende überlange Liebesnacht mit Alkmene Priorität haben, wissen die Götter.

Kleists Text, den die Inszenierung von Julia Hölscher nahezu unverändert auf die Bühne bringt, bedient sich nur verhältnismäßig sparsam am nie versiegenden Brunnen der Verwechslungsgags, im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der plötzlich infrage gestellten Identität von Sosias und Amphitryon: Ich bin ein Ich – und weiter? In Kleists ironisches Aufgreifen deutsch-idealistischer Begriffe wird die ernsthafte Frage nach der Bezugnahme des des Endlichen zum Ewigen, des Menschlichen zum Göttlichen laut. Frankens Zeus-Interpretation als kosmisch-tierisch-gleichgültiger, nur nachlässig in den Schafspelz der Menschenhaut gefahrener Obergott ist zwar streckenweise etwas uneindeutig geraten, aber richtungsweisend: hier offenbart sich kein (auf die eine oder andere Art) liebender Gott, öffnet sich kein Tor zur Transzendenz. Die Götter in Menschengestalt sind Träger des Chaos, die nicht nur den Komödientopos von vertauschten Machtverhältnissen aktivieren, sondern eine viel tiefere Grundlage attackieren als die von sozialen Rollen. Die Beziehung zur Transzendenz und zu den Mitmenschen scheitert an der zwanghaften Vermenschlichung des Göttlichen, das Diesseits ist jenseitig verseucht und andersherum – und keiner kennt sich mehr aus.

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© Sandra Then

Pia Händlers überragende Alkmene, gelöst von aller Verstrickung in stereotype Ich-versteh-das-alles-nicht-Ehefraulichkeit, kann den höchsten Gott nur lieben, verehren, wenn sie ihm menschliche Züge gibt, und ist, als das Unmenschliche in menschlichen Zügen umgeht, unfähig, auszumachen, was denn nun dieses Menschliche überhaupt sei; und das tragikomische Zweiergespann aus dem zähneknirschenden Feldherren und seinem, von Mastroberardino bewährt clownesk dargebotenem Diener können sich kaum zusammenraufen, eine Allianz des reinen Bewusstseins, angesichts der außer Kraft gesetzten sozialen, körperlichen Identität kommt nicht zustande.

Ähnlich wie Die Verlorenen ist auch diese Inszenierung visuell bestimmt von der Auseinandersetzung mit Grenzen, mit einem Draußen, das sich zuletzt als gähnendes schwarzes Loch offenbart – dann, wenn denn die Spiegel, die das eigene Gesicht ins Unendliche vervielfachen, einmal wegfallen. Das minimalistische Bühnenbild (Paul Zoller), eine sich gelegentlich drehende, durch eine Wand geschiedene Fläche, unter einem reflektierenden Himmel ermöglicht nicht nur überraschende und erfolgreich verwirrende Manöver, sondern entfaltet auch ein weites Bedeutungsgeflecht, das gerade durch seine Offenheit und Uneindeutigkeit fasziniert.

Wie wird man zusammenleben, nach so einem Scheitern an einander, mit einem ungeheuerlichen Gottessohn unter dem Herzen, Mahnmal des Unglaubens an die Wahrheit des Anderen? – Alkmene: „Ach“ – anhaltender, nachdrücklicher Beifall. Sehr zurecht!

Kritik: Tobias Jehle

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© Sandra Then