Eine alltägliche Situation: Es sitzen neun Menschen im Wirtshaus und unterhalten sich. Die Themen wechseln rasch, ein jeder erzählt aus seinem Leben, teilt Gedanken und Gefühle. Doch von gemütlicher Wirtshausatmosphäre kann bei dieser Konstellation keine Rede sein. Der Horror wartet bereits vor der Tür und bricht über die Beteiligten herein wie eine Welle aus Wut, Neid und Blut. Viel Blut. Werner Schwabs „europäisches Abendmahl“ ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM ist sicher nichts für schwache Nerven. Unter der Regie von Abdullah Kenan Karaca feierte es am 20. Mai 2021 Premiere am Münchner Volkstheater.
Zu Beginn geht alles recht gesittet zu. Die üblichen sieben Wirtshausgäste, eine Art Stammtischrunde, bemühen sich höflich miteinander umzugehen, sprechen Probleme des eigenen Lebens, jedoch auch die der Umstehenden an. Da kann man sich die ein oder andere Beleidigung natürlich nicht verkneifen. Es wird sich entschuldigt, und das Spiel beginnt von vorne. Doch die Stimmung kippt, weil sich ein Fremdkörper im Lokal befindet. Ein Fremdkörper in Form eines Paares beim eleganten Abendessen. Die zwei scheinen so zufrieden, wunschlos glücklich und mit sich im Reinen zu sein – für die schon etwas heruntergekommene Stammtischrunde ein gefundenes Fressen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Werner Schwabs Werk kommt blutrünstig und ekelerregend daher, doch steckt hinter der abscheulichen Fassade eine viel tiefergehende gesellschaftliche Bedeutung. Neid auf Aussehen und Besitz, das Missgönnen von Glück und Harmonie. Das alles ist fester Bestandteil der Welt, in der wir leben. Und dabei mag man so sehr nach der Zufriedenheit der Anderen streben, versucht sie völlig in sich aufzunehmen, um kurz darauf zu realisieren, dass sich am eigenen Leben rein gar nichts geändert hat. Auf der anderen Seite steht da natürlich noch die Frage nach den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Warum ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß? Wie kommt es, dass wir in einer Gesellschaft so großer Missgunst und Unzufriedenheit leben?
Karaca legt die Figuren auf der Bühne als Typen, fast schon wie Karikaturen an. Ihr Spiel wirkt aufgesetzt, die Gedanken unsortiert, die Dialoge sprunghaft. Dies macht es teilweise schwer, Schwabs Feuerwerk an Worten aufmerksam zu folgen. Die fantastische Arbeit aller Schauspieler ermöglicht es dem Zuschauer, diesem Sprachgefecht der Superlative zumindest größtenteils folgen und einen Einblick in das Innenleben eines jeden Charakters erhalten zu können. Kostüm und Maske (Elke Gattinger) leisten bei der Typisierung der Figuren sensationelle Arbeit und verwandeln die Schauspieler in Spottbilder der Unter- bzw. Oberschicht.
Zusätzlich dazu machen Bühne (Vincent Mesnaritsch), Musik und Licht die Inszenierung zu einer stimmigen Gesamtkomposition. Das heruntergekommene Wirtshaus mit dreckigen Dielen und verspritzten Wänden fügt sich gemeinsam mit den Figuren zu einem wunderbar passenden Bild zusammen, und schafft einen perfekten Kontrast zum glanzvoll zurechtgemachten Paar der Oberschicht. Die immer wieder anschwellenden Klangteppiche, so wie die Dämmung und Farbveränderung des Lichts erzeugen den horrorfilmartigen Charakter, der das Werk zu der düsteren Gesellschaftskritik macht, die es ist.
Kritik: Rebecca Raitz