Wahn und Wahnsinn – „Lear“ in der Staatsoper (Kritik)

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Rund 43 Jahre ist es bereits her, dass Aribert Reimanns Oper „Lear“ am Münchner Nationaltheater Uraufführung feierte – bis heute ist es Reimanns erfolgreichstes Werk und weltweit oft gespielt. Intendant Bachler hat die Rückkehr auf den Spielplan bereits vergangenes Jahr freudig angekündigt, die Titelpartie wird erstmals der Münchner Bariton Christian Gerhaher übernehmen. Nach der langen Schließung ist „Lear“ in der Inszenierung von Theater-Urgestein Christoph Marthaler nun die erste Premiere der Bayerischen Staatsoper vor Publikum seit Langem.

© Wilfried Hösl

Dass Marthaler eben doch aus dem Schauspiel kommt und sich in erster Linie um den Stoff, eingedenk des Originals von William Shakespeare, interessiert, zeigt sich ab der ersten Sekunde und auch in jeder weiteren Minute. Das Bühnenbild: ein Museum. Kahl, staubig, alt, wenig einladend. Die handlungstragenden Figuren: Exponate. Dementsprechend besucht zu Beginn erstmal eine Gruppe Museumsbesucher diese Relikte einer vergangenen Zeit – bevor Christian Gerhaher anfängt, die Figuren zum Leben zu erwecken. Ob er als Museumsdirektor den Lear heraufbeschwört oder selbst nur eines der Exponate ist? Who knows. In jedem Fall entspinnt sich die Intrige rasend schnell. Die bescheidene Tochter Cordelia schweigt, als es um große Liebesbekundungen zum Vater geht, woraufhin der impulsiv-engstirnige König alles seinen zwei intriganten und durchtriebenen weiteren Töchtern, Goneril und Regan, vermacht. Nur der Auftakt für ein wildes, politisches Machtkalkül, dass am Ende quasi alle Charaktere verrückt, blind oder tot zurücklässt.

Shakespeares Stück ist dicht und bietet Raum für schauspielerische Vielfalt – das Libretto der Oper orientiert sich nur zu stark an der Vorlage. Marthaler lässt also Gerhaher mit einem Schenkelklopfer starten, als er ihn eine Biene in eine Vitrine hängen lässt, mit den Hamlet’schen Worten „To Be Or Not To Be“. Es sollte der einzige Flachwitz des Abends bleiben. Etwas schade, denn auch wenn Handlung und Oper zügig und recht atemlos vorangehen, wäre etwas Witz und Esprit gar nicht verkehrt gewesen – das Bild bleibt kahl, die Inszenierung recht requisitenlos und der Narr erfüllt seine Aufgabe eher störend als inspirierend. Optischer Ausreißer: Goneril und Regan als Grand Dame, die hinterlistiger nicht sein könnten. Wenn sie mit ihren Gatten im Gleichschritt Wasser versprühen, während sie ihren Vater vom Thron absägen, hat das etwas von sektenhafter Übernahme. Im Zusammenspiel mit der Musik: große Klasse.

© Wilfried Hösl

Musikalisch ist Reimann von Wagner oder Mozart wohl ähnlich weit entfernt wie die CSU von Korruption – zwar voller Bombast, aber avantgardistisch bis in die letzte Note, es bleiben starke dodekaphonische Ansätze. Eigentlich kennt die Musik in „Lear“ nur zwei Extreme: Vollgas, was musikalisch einer Dauervertonung eines Jumpscares gleichkommt, oder sanfte Stille, wie sie im Finale zur Geltung kommt. Das ist zwar nicht annähernd so schwierig zu ertragen wie beim Kollegen Alban Berg, aber dennoch keine Oper, die man Neulingen präsentieren sollte – die kommen danach erst einmal nicht wieder. Lässt man sich darauf ein, bekommt man vor allem gesanglich eine unfassbare Leistung präsentiert. Besonders Angela Denoke als Goneril und Hanna-Elisabeth Müller als Cordelia überzeugen mit klarem und stimmstarkem Gesang, ebenso wie Countertenor Andrew Watts als überzeugter Edgar und dümmlicher Tom. Mit überwältigendem Spieleifer, nebst schwindelerregenden Tonhöhen, begeistert Matthias Klink als wahnsinniger, unehelicher Sohn Glosters, der optisch einem erwachsen gewordenen Kurt Hummel gleicht. Seine „Bastard“-Arie recht zu Beginn ist beeindruckend.

Christian Gerhaher selbst als Lear meistert die Partie gesanglich hervorragend, auch seine Verrücktwerdung gelingt großartig. Man sieht in ihm aber eher den tattrigen, nicht den bösartig-aufgebrachten alten Mann. Eine Nuance nur, die nicht allzu sehr stört. Dass es hier eine Ensemble-Leistung ist, die in vollem Maße gelingt, zeigt auch der gemeinsame Applaus – keine einzelnen Erscheinungen, alle Mitwirkenden kommen genauso auf die Bühne. Am Ende der Geschichte sind sowieso fast alle tot – Marthaler verzichtet auf ein halbes Gemetzel. Die Figuren werden einfach wieder starr, gehen zurück in die Vitrinen. Am Ende kommen ja wieder die Museumsbesucher.

Kritik: Ludwig Stadler