Kein Aufruf zum Massenmord – „Erschlagt die Armen!“ im Marstall

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Bangladesch, Rohingya, Verfolgung, Myanmar – Aus den Nachrichten sind diese Schlagworte bekannt, das Internet spuckt Terabytes an Material aus, wenn man sie in die Suchmaschine tippt.
Mit Geflüchteten, vor allem aus Bangladesh, befasst sich Shumona Sinha in ihrem Roman „Erschlagt die Armen!“. Diesem Roman wiederum widmet sich ein kleiner Arbeitskreis im Residenztheater, auf einer kleinen Bühne im Marstall. Am Freitag feierte Erschlagt die Armen! Premiere.

© Konrad Fersterer

Eine einzige Schauspielerin bearbeitet eine Thematik, die die deutsche Politik und auch die Theater seit nun etwa drei Jahren beschäftigt. Im Roman und praktisch auch im Stück geht es darum, wie eine in der französischen Version des BAMF arbeitende Dolmetscherin dazu kommt, einem Mann in der Bahn eine Weinflasche über den Schädel zu ziehen. Weil aber so viel ihren Geist bewegt, führt die namenlose Protagonisten durch ihren Gedankenwirrwarr.
Anna Drexler leiht ihr Stimme und Körper. Sie spielt, als könne man ein Tagebuch auf der Bühne sehen, mit intimsten Gedanken, meist ungeordnet, dennoch in Form gebracht. Und sie gibt dabei alles. Wenn es um Druck und Verzweiflung geht, dann ruft sie, wird laut und ungehalten; brüllt aber nicht einfach aus dem Nichts los oder rastet vollkommen aus, sondern ruft so, dass man wirklich denkt: da ist es einer eigentlich gesitteten Person jetzt dermaßen zu viel, dass sie die Stimme einmal erheben muss. Durch sie sieht man die Autorin, deren Roman autobiografische Züge hatte (die Erfahrungen als Dolmetscherin jedenfalls). Diese Erfahrungen bestimmen alles an diesem Abend, sie sind omnipräsent.

© Konrad Fersterer

Über der Bühne (Zino Wey) hängen unzählige Kopfhörer herab, allein sie erzeugen den Ton. Wie in einer Klanginstallation im Museum – oder in einem Verhör. Die zum Zuschauer abfallende Bühne ist anfangs mit einer weißen Plane bedeckt. Welche Assoziationen plötzlich kommen, wenn blaues Licht auf die Fläche der Bühne fällt und die Schatten der Kopfhörer vereinzelt darin treiben.
Dieses Stück hätte ein emotionaler Appell, ein Aufrütteln sein können. Ein Zeichen, dass wir alle doch einstehen müssen für Geflüchtete, dass es unsere moralische Pflicht wäre, die Grenzen und jedem Einzelnen unser Herz zu öffnen.
Doch so einseitig, so leicht macht es sich das Team um Zino Wey nicht. Es geht um Tatsachenberichte. Darum, dass es Menschen schlecht geht, dass sie vor der Not fliehen, dass Armut kein Grund für Asyl ist, dass viele der Leute das wissen. Darum, dass jeder auf dem Amt weiß, dass sie das wissen. Dass viel gelogen wird, liegt auf der Hand. Aber ebenfalls, dass man diese Leute und ihre Hoffnungen trotzdem so verdammt gut verstehen kann.
All das transportiert Weys Inszenierung. Wie lenkt man sich von so vielen fürchterlichen Geschichten ab, wenn man selbst einmal fremd war? Wird man nicht manchmal wütend? Drexler jedenfalls wird wütend.

© Konrad Fersterer

All das wird erzählt oder gedacht in einem Verhört von einem Herrn K (eine vieldeutiger Zufall?) auf der Polizeistation, nach jenem Vorfall, auf den das Stück erst kurz vor Schluss zu sprechen kommt. Von der Übersetzerin der Antragstellerinnen zur Angeklagten. Hat sie das alles nicht mehr ausgehalten? Es schient so!
Die Musik (Ole Brolin & Zino Wey) wird immer diffuser, hallt, fiept, wiederholt kollagenartig die gesprochenen Worte.
Die Neonröhren machen die Atmosphäre kühl, beleuchten Hintergründe. Strahlen die Protagonisten an, die sich in ihrer hautfarbenen Kleidung immer wieder häutet, um eine weitere Schicht zu offenbaren. Oder soll das eine Gefängniskluft sein? Schließlich geht es um eine Befragung.

Innerhalb einer reichlichen Stunde werden unheimlich viele Themen verhandelt, nicht zeichenhaft überladen, nicht zu oberflächlich, nicht zu emotional. Hier werden keine Tränendrüsen gedrückt, doch es lässt auch nicht kalt. Ein Eindruck wird vermittelt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Die Themen Migration und Integration, und was sie in einem eigentlich unbeteiligten Einzelschicksal auslösen können, werden sehr ernst genommen. Damit hat dieser kleine Arbeitskreis um Wey und Drexler sehr gewissenhaft und auf sehr hohem Niveau gearbeitet.

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