Erwartungsgemäß liegt der Altersdurchschnitt an diesem Donnerstag, dem 22. November 2018, sogar für Münchner Kulturverhältnisse ziemlich hoch. Kein Wunder, denn wer sich da angekündigt hat, ist eine Figur aus einer anderen Epoche, das darf man ruhig so sagen; einer Epoche, in der Swing und Jazz die Tanzlokale rund um die Welt zum Beben brachten, einer Epoche, an die sicherlich Manche an diesem Abend mit einem breiten Grinsen zurückdenken.
Das Prinzregententheater ist gut gefüllt. Aus den Lautsprechern erklingen verschiedenste Stücke von 50er-Swing bis Gypsy Jazz. Recht pünktlich um 20 Uhr schaltet man das Saallicht ab und schließt die Türen des Prunkbaus. Auf der Bühne befinden sich bereits ein Schlagzeug, sowie ein Kontrabass und eine E-Gitarre, je mit Verstärker, einige Blasinstrumente samt Dämpfern und zahlreiche Mikrofone im Vordergrund. Als den Zuschauern schließlich der alte Herr auffällt, der sich da sachte und langsam vom rechten Bühnenrand in Richtung eines Mikrofons begibt, bricht auch schon tosender Applaus los. Es wird wahrlich nicht der einzige bleiben an diesem Abend. Das Alter hat den Musiker gezeichnet. Gebückt und eingefallen steht er da, seine Stimme ist schwach. Doch trotzdem bringt er eine Selbstsicherheit und Ausstrahlung von über 60 Jahren Bühnenerfahrung mit, an denen auch das 88. Lebensjahr nicht rütteln konnte. „Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren…“ nuschelt Chris Barber ins Mikrofon. Ja, der Brite moderiert das komplette Konzert an diesem Abend auf Deutsch. Und das nicht gerade schlecht. Nur muss man sich ab und an größere Satzteile dazu reimen, die von der geringen Lautstärke und Verwaschenheit in der Aussprache verschluckt worden sind. In den Anfängen sei seine Band noch viel kleiner gewesen, doch er bringe exzellente Musiker mit sich, jeder Einzelne sei es absolut wert. Recht schnell nacheinander betreten neun Herren die Bühne, größtenteils jenseits der 50 oder 60. Doch bevor man sie überhaupt alle genauer beschauen kann, geht es unvermittelt auch schon los – und wie!
Was sie da gestartet haben, ist eine flotte Dixieland-Nummer vor einem metronom-gleichen Hintergrund. Mit Joe Farler (Banjo, Gitarre), John Day (Kontrabass) und John Watson (Schlagzeug) bringt Chris Barber da eine fabelhafte Rhythmus-Gruppe mit, der kaum jemand so leicht das Wasser reichen dürfte. Gerade Bass und Schlagzeug sind ein so eingespieltes Team, dass das Fundament wie von einer Maschine zu kommen scheint – was nicht heißen soll, dass es den beiden Herren an Einfallsreichtum mangeln würde. Ganz im Gegenteil beweisen sie in perfekter Präzision, dass sich eine Walking-Bass-Line gut und gerne auch über zwei Oktaven erstrecken darf oder dass sie nach einem komplexen Drum-Fill den Einstieg stets fehlerfrei meistern. Allgemein spielen alle Musiker technisch perfekt – man kann es schlichtweg nicht anders beschreiben. Gleich im ersten Song stechen zwei Spieler besonders hervor – es sind die Saxophonisten bzw. Klarinettisten Bert Brandsma und der Brite Nick White, die den ganzen Abend hindurch dahingehend auffallen, dass ihnen zumeist die größten Freiräume für ihre Soli geschaffen werden. Nicht selten wechseln sie dabei innerhalb eines Stückes zwischen zwei oder sogar drei Instrumenten. Brandsma zeichnet sich durch sein besonders schnelles, virtuoses Spiel an der Klarinette aus. Ihm gelingen wunderbare hohe Melodien und Läufe in seinen Parts. White wird an anderer Stelle des Abends von Barber als das jüngste Mitglied der Truppe bezeichnet (er ist ca. Anfang 40), vielleicht ist das einer der Gründe, wieso man ihm besonders viel Freiraum gewährt. Möglicherweise wechseln sich die Musiker allerdings auch bei ihren verschiedenen Konzerten damit ab.
Eine weitere Überraschung an diesem Abend: Chris Barber singt auch noch – und das gelingt ihm durchaus ansprechend. Bei einem Song kommt es da sogar zu einem richtigen Gänsehaut-Moment. Denn als der 88-Jährige Mann singt „Precious Lord, take my hand / take me to that promised land / … / my light is almost gone / … / my days are almost done“, da kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass er diesen Text nicht unbeachtet seiner Selbst darbringt. Das Gefühl, das sein Ausdruck uns in diesen Zeilen verleiht, ist zumindest ein treffendes, vielleicht auch gewürzt mit einer Portion Selbstironie, typisch britisch eben. Und auch seinen britischen Charme hat Barber nicht verloren. Er witzelt, die Pause sei 50 Minuten lang, um auch ordentlich eine Tasse Tee trinken zu können (tatsächlich ist sie dann so kurz, dass wir es kaum schaffen, unser Getränk auszutrinken). Und sogar an der Posaune spielt Barber nicht nur Begleitpassagen, sondern sogar noch einige Soli. Die virtuosen Höhenflüge überlässt er seinen jüngeren Begleitern, doch er spielt durchaus noch so gefühlvoll und treffend, dass man nicht vergisst, welch Altmeister sich hier präsentiert. Unterstützt wird er dabei unter anderem von der ersten Posaune der Band, verkörpert durch Bob Hunt, einem großen Mann mit stattlichem weißgrauem Bart, der in den letzten Jahren auch den Großteil der Arbeit an den musikalischen Arrangements übernommen hat. Gerade zusammen spielen sie häufig schöne zweistimmige Sätze. Alleine wirkt Barber dagegen ab und an etwas verloren, wenn seine Bandmitglieder sich in wilden Solo-Parts verlieren. Typisch für den Stil verlassen viele Musiker die Bühne, wenn sie gerade nicht spielen – oder spielen teilweise plötzlich vom Bühnenrand aus wieder mit. So entsteht ein reges Treiben, wie üblich für den New-Orleans-Stil. Natürlich stellt Barber seine Soloisten stets gebührend vor. Der charismatische Schotte Ian Killoran (Klarinette, Altsaxophon) sorgt dabei für einen besonderen Lacher, als er zur Nennung von Name und Herkunft seine schottischen Hosenträger entblößt. Barber selbst verwirrt etwas, indem er Schlagzeuger und Bassist beide als „John Watson“ vorstellt. Der Schlagzeuger teilt diesen Namen zwar mit dem Gehilfen des berühmten viktorianischen Detektivs, jedoch nicht mit seinem Kollegen an den Saiten.
Zwei Stücke dürfen an diesem Abend natürlich keineswegs fehlen: Oh When The Saints – weil die Band New-Orleans-Jazz spielt – und natürlich Ice Cream, Chris Barbers Lieblingssong, mit dem er traditionell und kultig seit 1954 jedes Konzert zu beenden pflegt. Doch fangen wir bei Erstgenanntem an. Der New-Orleans-Klassiker wird in einer Prachtversion präsentiert, in der so ziemlich jeder Musiker seinen Solo-Part bekommt. Das einzige Mal hören wir nun sogar ein Solo des Bassisten, der im Zusammenspiel mit dem Schlagzeuger und gekonnt alterierten Harmonien durchaus überzeugt. Watson wiederum macht sich durch das unmittelbar darauf folgende Schlagzeug-Solo allerdings erst zum wahren Publikumsliebling. Der weißbärtige Mann ist sicher Mitte 60 – doch das hält ihn nicht davon ab, mehrere Minuten in höchstem Tempo dennoch perfekt akzentuierte Rhythmen und Trommelwirbel in Szene zu setzen. Auch die Trompeten-Fraktion aus Mike Henry und dem bekannten Peter Rudeforth begeistert mit Passagen in wahnwitzigen Höhen. Was an dieser Stelle einmal erwähnt werden muss, sind übrigens die Smartphones, die gerade in solch spektakulären Teilen des Konzertes trotz des hohen Altersdurchschnittes von vielen Seiten in die Höhe gereckt werden. Wohl nicht nur ein Problem bei der „Jugend“.
Als Barber schließlich „Ice cream, you scream“ zu singen beginnt, ist dem erfahrenen Konzertbesucher klar: das ist der letzte Song. Noch einmal entfaltet sich die ganze Wucht der talentierten Musiker – dann ist das Konzert auch schon zu Ende. Barber will zu einer Dankes- und Verabschiedungsrede ansetzen, doch er kommt nicht weit. Die Menge tobt. Innerhalb kürzester Zeit Standing Ovations, niemand bleibt sitzen; jeder fühlt, dass das etwas ganz besonderes war, was wir da erleben durften. Von der Seite werden dem Bandleader schließlich Blumen gereicht. Er setzt seine Rede fort – kein Wort ist zu verstehen, so laut ist der Jubel. Schließlich verlassen die Musiker um ca. 22:40 Uhr die Bühne, die Legende stützt sich auf den Posaunen-Kollegen Bob Hunt. Chris Barber hat einmal von sich gesagt, er sei 1949 das erste Mal mit einer Bigband auf Tour gegangen und habe dann nie wieder damit aufgehört. Wir wünschen ihm von Herzen, dass er das auch weiterhin von sich behaupten kann.
Kritik: Thomas Steinbrunner