„Die Möwe“ (‚Чайка‘ ), zweifellos eines der herausragenden Werke Anton Tschechows und ein Meilenstein in der russischen Dramatik des ausklingenden 19. Jahrhunderts, stellt für jeden Rezipienten eine besondere Herausforderung dar. Im Spannungsfeld zwischen Komödie und Tragödie wird das Stück und seine Lesart seit jeher kontrovers diskutiert. Von Tschechow selbst als Komödie ausgewiesen, wurde es erst durch die melancholische Interpretation des großen Konstantin Stanislawski zum großen Bühnenerfolg. Seitdem gehört „Die Möwe“ zwar zum festen Repertoire nationaler und internationaler Spielhäuser, doch sind die unzähligen Inszenierungen nicht selten disparat.
Regisseur Christian Stückl, gleichzeitig auch Intendant des Münchner Volkstheaters, zeichnet jetzt erneut ein eher schwermütiges, am Ende verstörendes, Bild jener russischen Künstlergesellschaft, die sich auf einem Landsitz in der Provinz zusammengefunden hat, um sich dort ihrer eigenen Trostlosigkeit gewahr zu werden.
Gibt es gerade in der ersten Hälfte der über zweieinhalbstündigen Aufführung noch zahlreiche komische Momente, wie die Gesangseinlagen des herrlich verschrobenen Arztes Jewgeni Dorn (wunderbar gespielt von Mehmet Sözer), wird das Drama, ganz im Sinne Tschechows, im zweiten Teil stiller und, im Sinne Stanislawskis, ernster und leidvoller.
Die Sehnsüchte und Hoffnungen aller Beteiligten, der bleiernen Lethargie ihres Daseins durch Erfolg, Ruhm oder Liebe zu entrinnen, haben sich nicht erfüllt. Stattdessen ist ein jeder schwerst gezeichnet, körperlich oder seelisch. So bleibt vom Gastgeber, dem von Beginn an zum Tode geweihten, krebskranken Pjotr Sorin (Pascal Fligg), nur noch ein zitternder, Blut spuckender Greis im Rollstuhl und Konstantin Treplow (Oleg Tikhomirov) wird vom rebellischen, jungen Liebhaber zum desillusionierten, apathischen Antihelden, dem schließlich nur noch der Freitod Erlösung von seinen inneren Leiden bringen kann.
Treplows große Liebe Nina wird von Julia Richter verkörpert, deren Performance beim „Stück im Stück“ fraglos zu den Highlights der Inszenierung gezählt werden darf. Ohnehin bleibt festzuhalten, dass das gesamte Ensemble in seinen Rollen überzeugt, jeder Figur einen eigenen Charakter verleiht und bei aller Schwere durch eine permanente Überzeichnung eben auch für so manchen Lacher sorgen kann.
Das Bühnenbild von Stefan Hageneier, klar strukturiert, bietet in Form von übergroßen, marmorfarbigen Türrahmen ein schlossähnliches Ambiente, während der nahgelegene See durch eine Wasserlache im hinteren Bereich der Spielfläche angedeutet wird. Eine Konzeption, die den stimmigen Gesamteindruck abrundet.
Wenn man überhaupt etwas kritisieren möchte, dann sind es die etwas zu schrill geratenen Kostüme und Frisuren, die zwar die Extravaganz von Boris Trigorin (Jakob Gessner) und Irina Arkadina (Jule Ronstedt) auch visuell akzentuieren und einen bewussten Kontrapunkt setzen, doch für die Welt des Anton Tschechow, in der die Andeutung genügen soll, wirkt eine solche Diktion der Übertreibung übertrieben.
Fazit: Gelungene Aufführung des russischen Klassikers, der auch in der Neuauflage der Gesellschaft einen Spiegel vorhält und zum Nachdenken anregt, ohne auf eine allzu starke Identifizierung mit den Figuren abzuzielen. Theaterbesucher, die sich noch immer eine Komödie im Sinne eines heiteren, unbeschwerten Lustspiels erwarten, könnten spätestens nach der etwa 20-minütigen Pause etwas enttäuscht werden.
Besuch der Premiere von „Die Möwe“ im Münchner Volkstheater am 26. Oktober 2017.
Bericht: Hans Becker
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