Die Inszenierung der Erfolgsreihe – „Das Leben des Vernon Subutex“ in den Kammerspielen (Kritik)

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Subutex! Was für eine charismatische Person!, schlägt es einem schon ganz zu Beginn des Abends entgegen. Was treibt diesen Menschen um? Was geht in ihm vor? Nur wenige dieser Fragen werden am Ende beantwortet sein. Ausreichend wird allerdings beleuchtet, mit wem er sich umgibt, mehr oder weniger freiwillig. Doch einmal vom Anfang: Die Romanreihe Das Leben des Vernon Subutex der provokanten französischen Autorin Virginie Despentes, die einen Mann als Protagonisten wählt, um ernster genommen zu werden, wird in den Münchner Kammerspielen mit einer Frau in der Hauptrolle besetzt und am 28. März 2019 vorgestellt.

Jelena Kuljić lässt keinen Moment die Frage aufkommen, warum so besetzt wurde. Sie ist der perfekte Subutex. Ein charismatischer Schlag Mensch, stilvoll, cool, ein bisschen verschmitzt, ein bisschen abgeklärt. All das wird durch Haltung, durch Aussprache oder Gesang deutlich. Selten aber durch den Text der Figur. Obwohl der abgebrannte Plattenverkäufer der Titelhelden des Stückes ist, wird über ihn nur sehr wenig erzählt. In der kompletten ersten Hälfte des dreistündigen Abends werden die Zuschauer dafür durch die anderen Figuren auf Trapp gehalten, die groß in Zahl und Vielfalt nacheinander auf den Plan treten. Von rebellischen Teenagern über zugedrogte Geschäftsleute bis zu Pornostar und plärrenden Pennern ist alles dabei. Das wird schon in den Ankündigungen der Kammerspiele zum Stück deutlich. Stefan Puchner hält sich hier an die Literaturvorlage, diese enthält viele filmische Elemente.

© Arno Declair

Das Bühnenbild (Barbara Ehnes) besteht aus einem gestuften Amphitheater mit einer halbrunden Leinwand am hinteren Bühnenrand. So kommen scheinbar der Ursprung des Theaters und die heutige Form auf der Bühne zusammen. Nacheinander flackern die ausgeflippten Figuren mit einem kurzen Portrait-Spot auf, bevor sie leibhaftig auf die Bühne kommen. So springt die erste Hälfte des Stückes buchstäblich von einer Figur zur Anderen. Erst im zweiten Teil geht es ruhiger zu und es sitzt auch mal jemand beim Sprechen. Wie in einem Buch, stellt Puchner vor, von wem man noch hören wird. Das ist spannend und lässt keine Langeweile aufkommen, neigt aber fast etwas zum Entertainment. Da alle Figuren so schrill und auffällig sind, konkurrieren sie scheinbar nach dem Motto: Jeder kriegt fünf Minuten Fame. Trotzdem sind die so kurzen Beschreibungen, die knappen Momente, die Subutex mit jeder Figur verbringt, so prägnant gezeichnet, dass damit ganze Gesellschaftsschichten analysiert werden.

Eine paar Beispiele, angefangen mit einem Video von Subutex und einem Freund auf der Couch, der über das Leben signiert. Diesem Alex Bleach (Abdoul Kader Traoré) scheint Vernon von allen Weggefährten am Nächsten zu stehen. Was tragisch ist, da Bleach schon zu Beginn der Geschichte tot ist. Mit seinem Tod begann der freie Fall des Antihelden, den er eher gleichgültig hin nimmt. Nachdem das Internet seinen Plattenladen platt gemacht hat, ihm Geld und Bleibe ausgehen, surft oder schlurft er von Couch zu Couch. Manche seiner alten Bekannten profilieren sich, es besser zu haben als er, andere trifft er ganz zufällig. Trotzdem lassen sein Charisma, seinen Augen niemanden kalt. Diese Aura strahlt Kuljić mit solcher Natürlichkeit aus, dass sie schwer in irgendeiner anderen Rolle vorstellbar ist. Die weiteren Figuren werden zwar alle nur kurz beleuchtet, ihre Beschreibungen und Handlungen sind aber so präzise und spitz, dass ein klares Bild jeder Einzelnen entsteht. Auch wer nicht weiß, dass Despentes als weiblicher Houellebecq gehandelt wird, zieht diese Verbindung sehr schnell. Denn hier werden Gesellschaftsphänomene treffend und knackig über die Lebenssituation einzelner Figuren erzählt. Wer das versteht, für den öffnen sich wirklich weite Horizonte, wer nicht, ist trotzdem geflashet von der Wucht der Charaktere. Das ist eine hohe Kunst im Theater, für alle etwas, für jeden das Richtige Maß anzubieten – und das auch noch im selben Stück.

© Arno Declair

So ist Emilie (Maja Beckmann) das Sinnbild all jener ehemaligen Idealisten, die sich, um der Gesellschaft, vielleicht den Eltern, zu genügen, einen Bürojob gesucht haben, damit ganz gut klar kommen, aber eigentlich völlig frustriert sind und sich selbst zu fett finden. Beckmann bringt das so überzeugend rüber, dass die Studenten im Publikum richtig Angst bekommen, eines Tages in derselben Situation zu erwachen. Mit Aïcha (Zeynep Bozbay) wird die in Frankreich geführte Debatte über junge Frauen mit entferntem Migrationshintergrund angeschnitten, deren Eltern sich viel Mühe zur Integration gaben, nur damit die Kinder sich salafistischen Hasspredigern hingeben. Die Figur wird noch komplexer, als sie erfährt, dass ihr verstorbene Mutter als Pornostar Karriere machte. Als Aïcha auch noch über einen gewalttätigen Freier stolpert, geht gar nichts mehr. Gemeinsam mit Freundin Céleste (Gro Swantje Kohlhof) entlädt sie ihren ganzen Hass an dem egozentrischen Filmproduzenten Laurent Dopalet (Jochen Noch). Für die Entwicklung von Aïchas Persönlichkeit ist der Platz im Stück zwischen all den anderen Figuren leider nicht ausreichend. Darum verwundert es wenig, dass Bozbay zwar in Rage und Wut überzeugt, aber auch nur darin. Auch ihr Vater Sélim (Kamel Najma) bleibt im Stück nur sehr grob umrissen. Noch hingegen kauft jeder den Ekeltypen komplett ab. So stellt man ihn sich vor, den Weinstein unter den Produzenten, der alles tut um den eigenen Dreck unter den Teppich zu kehren. Was für zerstörte Kreaturen sich im Showgeschäft herum treiben und mit welchen Mitteln in den 2000er Jahren Karrieren zerstört werden konnten, wird durch Dopalet, Xavier (Samouil Stoyanov) und die Hyäne (Wiebke Puls) deutlich. Sie ist eine ehemalige Dealerin, eine attraktive, aber eiskalte „Kampflesbe“ und damit ist gemeint, dass sie aggressiv und zu allem bereit ist. Sie soll Subutex Videomaterial abnehmen, das Video von ihm und Bleach, Informationen, die Dopalet gefährlich werden könnten. Puls spielt super! Weil sie eben Puls ist. Die Unantastbare, die Boshafte, in Lederleggins und klobigen Turnschuhen, die aber unter Subutex verstrahlter Aura irgendwie auftaut, passt als Figur aber nicht 100 % zu ihr. Trotzdem erinnert sich im Nachhinein allein wegen Kostüm, Maske und Auftretens jeder an sie. Die Kostüme von Tina Kloempken sind hier besonders hervorzuheben. Schon die Fotos machen Lust, das Stück zu sehen, denn genauso stellt man sich die Kleidung der entsprechenden Figuren vor. Diese zu Erwartungen zu erfüllen ist nicht leicht, da die Figuren so komplex sind. Großes Lob also für diesen Augenschmaus! Zudem wird jede Figur mit entsprechenden Tattoos ausgestattet, auch das: super getroffen!

© Arno Declair

Wer kommt noch vor, in diesem Rausch an Figuren? Gefühlt das halbe Ensemble, nämlich 17 Darsteller.
Annette Paulmann bringt die Zuschauer als rotzige Obdachlose Olga zum Lachen, mit einer Mischung aus „Ihr-könnt-mich-Alle-mal“-Attitüde, Naivität und auch Sensibilität, zieht sie die Sympathie auf ihre Seite. Den verzweifelten Drehbuchautor Xavier spielt Stoyanov, wie er viele spielt; das liegt daran, dass die Rolle – ein bisschen pingelig, ein bisschen tiefgründig – genau das ist, was er richtig gut kann.
Mit Pamela Kant hat auch Thomas Hauser eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert ist, er stöckelt über die Bühne, genießt die Aufmerksamkeit der Bewunderer, ist aber eigentlich genervt vom Sex. Der spielt in diesem Stück zwar eine Rolle, kommt aber nicht so mit dem Holzhammer daher, wie das bei Autor Houellebecq immer der unangenehme Fall ist. Relevante Themen? Klares Ja! Eine Ansicht, die dem Zuschauer dominant um die Ohren geschleudert wird? Nein!

Nach der Pause haben sich die meisten Figuren in einer Rave-Sekte um Vernon versammelt, sie gehen ab zu seiner Musik, philosophieren über die Gesellschaft und ihrem Umbruch (Hört der Frankreich-Kenner da eine gelbe Weste rascheln?). Subutex selbst scheint das gar nicht zu kapieren, vor allem in der zweiten Hälfte spielt er eine untergeordnete Rolle. Dafür äußern sich alle anderen Figuren mit verschiedenen Statements, aber wieder wird dem Zuschauer nicht aufs Brot geschmiert, was er bitte denken soll.
In den letzten Zügen entwickelt sich das Szenario hin zu einer weltweiten Bewegung. Die so Verschiedenen sind verbunden durch die komischen Fügungen, die sie zusammengebracht haben und durch Subutex, der nichts davon beabsichtigt hat.

Das Stück geht ein paar Schritte zum Surrealen. Begleitet ist diese Entwicklung von wahnsinnig passender Musik von Christopher Uhe und dem Gesang der Schauspieler, vor allem aber von Kuljić, die, wenn sie singt, noch besser wirkt! Die Musik verleiht dem Stück eine Qualität auf dem nächsten Level. Logisch! Schließlich ist die Musik, der Plattenladen, der Ursprung, mit dem diese außergewöhnliche Reise beginnt.

Kritik: Jana Taendler