Eigentlich braucht es nicht viele Worte, um Seong-Jin Chos Solorezital am 12. Mai 2019 im Prinzregententheater zu beschreiben: fantastischer Pianist, unbedingt ins Konzert gehen. Ende.
Doch vielleicht sollte man trotzdem etwas ins Detail gehen, zum Beispiel darüber, wie herrlich weit und klangvoll er die Eingangsakkorde der Schubertschen Wandererfantasie anlegt. Nicht so resolut akzentuiert, wie sie etwa der junge Evgeny Kissin spielt, sondern äußerst lyrisch und romantisch. Durch Chos Feinfühligkeit behält die Fantasie die latente Melancholie und Sehnsucht bei, die sie unbedingt verträgt. Der Südkoreaner schenkt den Zwischenstimmen Aufmerksamkeit, man kommt so in den Genuss von Melodien, die in vielen anderen Interpretationen verborgen bleiben. Sein Crescendo ist eine weitere Entdeckung: er steigert sich so gleichmäßig in der Lautstärke, dass man meint, der Ton würde mit einem Regler laut gedreht. Ganz beiläufig besitzt der Pianist eine traumwandlerische Virtuosität. Beiläufig auch deshalb, weil er sie dankenswerterweise nicht durch übertriebene Gesten betont. Das Adagio kommt in andächtigem, gemessenem Gewand, die trauermarschartige Einleitung erhält trotz des pianos durch die stets so runden und vollen Bässe ein großartiges Volumen. Generell spielt Seong-Jin Cho die Wandererfantasie sehr sanglich und mit viel rechtem Pedal, setzt dieses aber äußerst differenziert ein und bleibt so gleichzeitig transparent. Es ist geradezu eine Bilderbuchinterpretation, man kann sagen: so muss das gespielt werden.
Nach dieser starken Vorlage folgt ein Debussy-Block, zuerst das erste Buch der Images – etwa fünfminütige Klanggemälde, die Claude Debussys Ambition, Bilder durch Musik zu malen, exemplarisch veranschaulichen. Debussys Musik erfordert unter anderem eine große dynamische Kontrolle. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der zu vermittelnden Stimmungen muss durch die Lautstärke transportiert werden. Seong-Jin Cho ist ein Meister der Differenzierung zwischen piano und pianissimo, und dann wieder greift er kraftvoll zu und hebt die ungewöhnlichen Harmonien als besondere Farbakzente bewusst hervor. Man merkt deutlich, wie er die einzelnen Noten nicht als solche begreift, sondern immer den Zweck eines Arpeggios oder einer Akkordfolge im Kontext des gesamten Stückes sieht. Cho malt mit der Musik die jeweilige Atmosphäre wie ein Künstler an der Staffelei – ganz im Sinne des Komponisten. Die Reflets dans l’eau beispielsweise bringen also die Illusion von perlenden Wassertropfen in den Konzertsaal, mit sanft rollenden Klangwellen und Gänsehautmodulationen. Anschließend folgen ohne große Unterbrechung noch vier Préludes aus dem ersten Buch. Besonders facettenreich werden die letzten Prélude Ce qu’a vu le vent d’ouest gestaltet. Unruhig pulsierende Arpeggien leiten das Stück ein, bevor Cho die bedrohliche Melodie warnend herausschält und dann, kaum entwickelt sich ein fortlaufender Rhythmus, diesen mit derart trocken und schroff angeschlagenen Akkorden sofort wieder kompromisslos unterbricht, dass man sich fragt, wie er eben noch diese friedlich-pastorale Stimmung bei Schubert entstehen lassen konnte.
Weitere ausdrucksstarke Bilder erwarten die Zuhörer nach der Pause – mit Modest Mussorgskys Monumentalzyklus Bilder einer Ausstellung. Ganz hart und überpräsent hämmert Cho erst das Promenaden-Thema in die Tasten, dann arbeitet er wieder weich und lyrisch mit den Klangfarben. Bei Tuileries und Ballet des petits poussins dans leurs coques blitzt zwischen dem so ernsthaften Programm auch einmal der Humor durch und Cho zeigt, dass er auch diese Facette des musikalischen Ausdrucks überzeugend beherrscht. Bisweilen scheint er fast zu explodieren und füllt den ganzen Saal mit seinem unerschrockenen, spannungsvollen Anschlag. Das große Tor von Kiev als majestätisches Finale ist überwältigend. Die mächtigen Klangbilder brennen sich so eindrucksvoll in den Kopf, dass man wahrlich das Gefühl hat, als wäre man gerade durch eine imposante Bildergalerie gelaufen.
Seong-Jin Cho besitzt einerseits diese jugendlich-ungestüme Leidenschaft, die aber keineswegs manieriert oder gar unstimmig wirkt, da er andererseits sehr klug und aristokratisch-vornehm spielt und konstruiert. Er hat immer das Ziel, den großen Bogen im Auge, jedes Stück ist in sich rund und stringent abgeschlossen. Dazu noch die stupende Technik, mit der ihm die größten Schwierigkeiten mühelos von der Hand gehen. Wer also die Möglichkeit hat, diesen schon bald fest etablierten Newcomer zu hören, möge dies auch tun – es lohnt sich außerordentlich!
Als Zugabe gibt es noch einen der größten Romantiker – Johannes Brahms‘ Intermezzo op. 118 Nr.2 mit Wiegenliedcharakter und herrlichen Harmonien ist ein sanfter Rausschmeißer nach diesem (Bilder-)Feuerwerk von einem Programm.
Kritik: Bea Mayer