Wir lieben Vielfalt!…Nur bitte weit weg! – ‚Model Citizens‘ auf dem Tollwood Winterfestival

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Adventszeit in München! Nach einem goldenen Herbst und viel zu milden Temperaturen ist es jetzt doch noch richtig kalt geworden; gerade noch rechtzeitig, um bei Glühwein, kandierten Äpfeln und gebrannten Mandeln die gemütlich-romantische Atmosphäre der Weihnachtsmärkte vollauf genießen zu können. Das Epizentrum winterlicher Gaumenfreuden befindet sich auch in diesem Jahr wieder auf dem Areal der nördlichen Theresienwiese, auf der man im Rahmen des Tollwood Winterfestivals zwar auf den klassischen Budenzauber weitestgehend verzichten muss, doch dafür gibt es zu lukullischen Genüssen ein ebenso reichhaltiges Angebot an kulturellen Leckerbissen nationaler und internationaler Provenienz. Im Sinne des Festival-Konzepts soll sich schließlich ein Besuch doppelt und (nimmt man den ‚Markt der Ideen‘ noch dazu) dreifach lohnen. Wie gut dieses Modell der Veranstalter ankommt, lässt sich am ungebremsten Zulauf nur allzu deutlich ablesen.

Längst hat das Winter-Tollwood mit dieser Idee seine eigene vorweihnachtliche Tradition etabliert und das Line-Up der Künstler hat sich zu einem Who-is-Who der Szene(n) entwickelt.

© Rob Blackburn

Aktuelles Beispiel ist die legendäre Artistengruppe des australischen Circus Oz, die bereits 1994 auf dem Festival debütierte und deren Performance bei vielen Besuchern in bester Erinnerung geblieben ist. Mit ihrem neuen, etwa zweistündigen Programm ‚Model Citizens‘ feiert das Team um Leiter Rob Tannion in diesem Jahr seine Deutschlandpremiere. Die Show thematisiert im Stile des Cirque Nouveau die Konformität moderner Gesellschaften, in denen die Angepasstheit des „korrekten Bürgers“ über allem steht und Individualität und Anderssein unweigerlich zur Ausgrenzung führen. So wird der tätowierte Punker Mitch Jones gleich zu Beginn der Vorstellung zum Außenseiter, den man ignoriert und meidet. Erst als er sich fügt, Gestus und Kleidung wechselt, wird er in das Kollektiv des ganz in Blau gekleideten Ensembles aufgenommen. Danach wird die weit verbreitete Multikulti-Moral des (australischen?) Spießbürgertums gespiegelt: „Wir lieben Vielfalt!…Nur bitte weit weg!…Am Stadtrand!“

© Rob Blackburn

Ist zu Beginn das Leitmotiv des Abends noch sehr präsent, mäandert es im weiteren Verlauf der Inszenierung im Rausch der artistischen Präsentation. ‚Model Citizens‘ ist in erster Linie ein Feuerwerk aus atemberaubender Akrobatik, Musik und Choreographie! Eine Show, wie man sie so nur selten zu sehen bekommt! Während der gesellschaftskritische Charakter also in den Hintergrund gerät, wird die Bühne zur bunt ausgeleuchteten Arena der kleinen Sensationen. An einer überdimensionalen Sicherheitsnadel wird der Kletterkünstler Lachlan Suckroo zur „Human-Flag“, Mitch Jones mutiert zum Messer werfenden Feuerschlucker und der Rest der Compagnie fliegt und turnt ein ums andere Mal so spektakulär durch die Lüfte, dass man sich unweigerlich die Frage stellt, ob diese Einlagen tatsächlich bis zum 31. Dezember gut gehen können. Zum Glück wird es zwischendurch auch mal entspannter und spielerischer, sodass eine Nummer wie Tara Silcocks Jonglier- und Balance-Einlage im riesigen Martini-Glas zum reinen Genuss werden kann. Auch die musikalische Untermalung, live auf der Bühne performt von Ania Reynolds und Jeremy Hopkins, trägt ihren Teil zur wunderbaren Atmosphäre von ‚Model Citizens‘ bei.

Alles perfekt, könnte man meinen – aber wenn es ein Zirkus sein soll, fehlen da nicht die Clowns? Manche mögen sie, manche nicht. Im Circus Oz wird jedenfalls auf den klassischen Clown verzichtet. Dafür gibt es kurze Szenen, in denen die Crew – verkleidet als eine Herde von halbnackten, Grimassen schneidenden Schafen – eine eigene Ballettnummer tanzt und mit dem Publikum seinen Schabernack treibt. Sicher eine schräge Form des Humors, doch in der Gesamtbewertung der Show ein eher kleiner Wermutstropfen!

Fazit: Fulminante Premierenveranstaltung des diesjährigen Winterfestivals! Für alle, die auch an etwas grauen Tagen nach Abwechslung und einem Ort zum Abschalten, Träumen oder Staunen suchen, wird das Tollwood einmal mehr zur richtigen Adresse.

Kritik: Hans Becker