O soave fanciulla – „La bohème“ in der (digitalen) Staatsoper (Kritik)

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1969 feierte der legendäre Theater- und Opern-Regisseur Otto Schenk mit seiner Inszenierung von „La bohème“ an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Auch 51 Jahre später steht die Version von Pucchinis wahrscheinlich eingängigster Oper immer noch auf dem Spielplan. Zur Weihnachtszeit für viele bereits Pflichtprogramm, wären auch 2020 unzählige Vorstellungen geplant gewesen – zu den regulären noch einige weitere Aufführungen Ende November mit Jonas Kaufmann als Rodolfo und Rachel Willis-Sørensen als Mimì – beide in Münchner Rollendebüts! Da der Lockdown dazwischenkam, gab es ebendiese Variante nun am 30. November 2020 nun als Live-Stream zu sehen. Bis 3. Januar steht die Oper als Video-On-Demand zur Verfügung.

© Wilfried Hösl

Paris, bei Nacht, verschneit: die romantische Stimmung strömt ab der ersten Sekunde durch den Bildschirm. Schenks Inszenierung zeichnet sich eben auch dadurch aus, in vollem Maße klassisch zu sein – etwas, das inzwischen oft des Fehlens bemängelt wird. Ob so eine Art des Bühnenbilds noch 2020 angemessen wäre, käme es als Neuinszenierung auf die Bühne? Wohl kaum. Erfreulicherweise zeigt Schenks Welt noch keine großen Alterserscheinungen und so wirkt Jonas Kaufmann wohl genauso frisch in Paris wie all die Tenöre in den Jahrzehnten vor ihm. Zudem schafft es die Kamera, das düstere, aber eben auch romantisch-dunkle Bild der Pariser Epoche gekonnt einzufangen und transportiert rein vom Gefühl, wo man sich als Zuschauer gerade befindet, das wahrscheinlich noch stärker als im Opernsaal selbst.

Nichtsdestotrotz fehlt das große Momentum, wenn Kaufmann und Willis-Sørensen beispielsweise zum Duett „O soave fanciulla“ anstimmen. Das liegt keinesfalls den beiden Liebenden, die stimmstark und nuanciert die fantastischen Melodien Pucchinis vortragen, aber der nachhaltige Druck und die großen Emotionen, die man eben dann doch nur erlebt, wenn man vor Ort ist und die Musik auf voller Linie spürt, die geht etwas verloren. Es bleibt eine musikalisch faktisch perfekte Variante, denn Asher Fisch weiß das Bayerische Staatsorchester genauestens zu dirigieren, was für einen äußerst ausgewogenen Klang führt – so sehr könnte man bei der Tontechnik gar nicht tricksen. Die Tatsache, dass Star-Tenor Jonas Kaufmann in die Rolle des Rodolfo zurückkehrt, die er zwar nicht in München, aber sonst bereits unzählige Male gesungen hat, bezeugt auch, dass die Interpretation der „La bohème“ nicht eine Repertoire-Leiche ist, sondern weiterhin frischen Wind bringt und selbst die großen Namen der Szene immer wieder auf die Bühne zieht. Am Ende bleibt ein rund 110-minütiges Vergnügen, fast wie ein Film auf einem Streaming-Dienst. Aber die Musik holt einen dann doch wieder zurück – zurück auf die Opernbühne der Staatsoper. Und zurück in die Sehnsucht, genau das noch einmal vor Ort zu hören.

Das 24-Stunden-Ticket kostet 14,90 EUR. Bis zum 3. Januar 2021 verfügbar.

Kritik: Ludwig Stadler