All Those Born With Wings – Jan Garbarek im Prinzregententheater (Kritik)

Veröffentlicht in: Konzerte, Sonstiges | 0

Freitag, 8. April 2022, ein kühler Frühlingsabend. Beständiger Zulauf am mehrtürigen Eingang des Prinzregententheaters. ›Muss man jetzt gar nicht mehr –?‹ ›Nein, das Ticket genügt.‹ Auf dem Ticket und in wenigen Minuten auf der Bühne des prächtigen Saals steht: Jan Garbarek (mit) Group.

Quelle: https://www.bellarte-muenchen.de/images/upload/bilder/new2006jan-garbarekseatingwithhorn-1.jpg
© Bell‘ Arte Konzertdirektion

Pünktlich um acht Uhr betritt einer der bedeutendsten Musiker der europäischen Jazz-Gegenwart mit seinen Kollegen die Bühne: Jan Garbarek. Der Norweger erlangte internationale Bekanntheit durch seine Zusammenarbeit mit dem Hilliard Ensemble auf dem Album Officium, sowie mit Keith Jarret, dem, neben Garbarek selbst, anderen großen Aushängeschild des ECM-Labels, seit jeher Garbareks verlegerische Heimat.

An diesem Abend geht es aber nicht um historische liturgische Choräle und auch nicht um Jazz im engeren Sinn; Garbarek und Group spielen in einem ganz eigenen Kosmos, in den verschiedenste Einflüsse eingehen und hochauflösend verarbeitet werden. Die Group, das sind an Garbareks Seite Yuri Daniel am E-Bass, Rainer Brüninghaus am Keyboard und Flügel, sowie Trilok Gurtu an allen erdenklichen Arten von Percussion-Instrumenten. Die drei älteren der Gruppe, Garbarek, Gurtu und Brüninghaus spielen schon seit mehreren Jahrzehnten zusammen; der Indien-stämmige Gurtu, der in den 70er Jahren mit der Band Embryo kollaborierte und Garbarek bei der Zusammenarbeit mit Don Cherry kennenlernte, spielte in den 80er Jahren in Brüninghaus‘ Band, wenig später ergab sich der Beginn des gemeinsamen, bis heute andauernden Engagements.

https://www.trilokgurtu.com/press-photos.html
© Trilok Gurtu

Die Gruppe startet das Konzert mit einem für Garbarek typisch gewordenen Stilmerkmal: Brüninghaus entlockt seinem Keyboard langgestreckte, spacige Soundflächen, in die sich Garbarek am Tenor-Sax einsinken lässt. Auf dieser klanglichen Leinwand beginnen die Musiker langsam und mit zunehmender Intensität zu malen, sie arbeiten Leitmotive heraus, die sich über weite Strecken durchhalten, verfolgen ausgedehnte Solo-Verwicklungen an den verschiedenen Instrumenten; die Soundpalette changiert zwischen Weltmusik, Jazz, Progrock(-artigem). Deutlich ist den Musikern ihre Spielfreude anzusehen, nachdem die Pandemie sie in ihrem Tun so lange ausbremst hat (das Konzert war ursprünglich für den letzten April angedacht). Das gilt vor allem für den engagierten Daniel und den unermüdlichen, omnipräsenten Gurtu, der in einem Ring aus verschiedensten Schlaginstrumenten herumwirbelt wie von Wespen verfolgt. Garbarek (abwechselnd am Tenor- und Sopransaxophon) und Brüninghaus halten sich eher im Hintergrund, fast zögerlich scheint Garbarek bisweilen sein Instrument an die Lippen zu setzen, als genieße er mehr noch als den Ton selbst den Moment vor dem Ton, den Moment der gespannten Erwartung, da Gurtus vertrackte Rhythmen, Daniels Bassläufe und Brüninghaus‘ Improvisationen der Auflösung durch Garbareks klare, so bestimmte wie sanfte Stimme harren. Immer wieder zieht sich der Protagonist des Abends ganz zurück und überlässt die Bühne seinen Mitmusikern für Solo-Darbietungen; und zwar vor allem Gurtu, der mehrfach ausgedehnte Percussion-Darbietungen mit vollem Körpereinsatz vom Stapel lässt. Großen Unterhaltungswert für das begeisterte, den Saal fast ganz füllende Publikum haben seine Einlagen, insbesondere seine Vokal-Drum-Soli und unkonventionellen Klangerzeuger. Allerdings wirkt der Abend dadurch mitunter recht fragmentiert, abgesehen vom Spektakel des Trommel-Gurus wünscht man sich mehr gemeinsames, organisches Musizieren der hochkarätigen Band. Dazu kommt, dass Gurtus Trommeln teilweise zu laut verstärkt werden; dann schneidet sein Spiel als übersteuertes Knacken unangenehm durch die Musik der anderen.

Dessen ungeachtet zeigt sich das Publikum hochzufrieden mit dem Auftritt der Jan Garbarek Group; die Musiker werden mit stehenden, ja stampfenden Ovationen bedacht und – nach der planmäßigen – zu einer außerplanmäßigen zweiten Zugabe herausgebeten. Ein lange verschobener, versagter Konzertgenuss; nun endlich eingelöst zur Freude aller Beteiligten.

Kritik: Tobias Jehle