Die Königin der Orgel – Iveta Apkalna im Herkulessaal (Kritik)

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Eine der raren Gelegenheiten, die Orgel des Herkulessaals in Aktion zu erleben, bot sich mit Iveta Apkalnas Solokonzert am 14. Dezember 2019. Den Abend eröffnete die Titularorganistin der Elbphilharmonie mit dem Komponisten, der in keinem Orgelprogramm fehlen darf – mit der Fantasia BWV 572 von Johann Sebastian Bach.

Dem ersten Teil der Fantasia verpasst Iveta Apkalna von Anfang an eine ziemlich freie Agogik, die Sechzehntel trotzdem präsent und eher langsam ausgespielt. Den zweiten polyphonen Teil setzt sie dagegen vergleichsweise schnell an, was aber seinen majestätischen Charakter keineswegs schmälert. Im dritten Teil stehen in Apkalnas Interpretation keineswegs die 32stel-Arpeggios im Vordergrund, diese werden überdeckt von der chromatisch zum Orgelpunkt D absteigenden Linie des Pedals. Raffiniert und schlüssig von der Lettin, denn durch das hervorgehobene Verweilen des Orgelpunkts über zehn Takte hinweg erwartet man den triumphalen G-Dur-Schlussakkord umso ungeduldiger.

Der restliche Teil des Programms stammt von französischen Komponisten, allesamt Titularorganisten an Pariser Kirchen. César Francks Opus 18, ein Triptychon bestehend aus Prélude, Fuge und Variation, hat es erst kurzfristig ins Programm des Abends geschafft – zum Glück.

© Juris Zigelis

Übertriebene metrische Freiheit hat für sie in diesem Stück keinen Platz, die Lettin wählt, verglichen mit ihrem Kollegen Olivier Latry, ein gemessenes Tempo,  spielt die kreisende Melodie der Prélude schlicht und ausgeglichen. In der Variation kehrt diese Melodie zurück und schwebt unantastbar über der Begleitfigur. Es entsteht die Illusion einer Reise – die Nebenstimmen bilden vorbeiziehende Landschaften, das Variationsthema bewegt sich ungehindert durch diese fort. Auch die eingeschobene Fuge konstruiert Apkalna angenehm klar und unaufgeregt, der gesamte Franck schafft so eine erdende Grundlage für die darauffolgende „halbierte“ Symphonie Nr. 3 von Francks Schüler Louis Vierne.

Durch den kurzfristige Programmänderung spielt Apkalna nur die letzten drei Sätze dieser Orgelsymphonie, beginnt also mit dem Intermezzo. Dieses wird zu einem bizarr-komischen Tanz à la Schostakowitsch mit stets frech überbetontem Schlussakkord jeder Phrase. Im Adagio rutscht die Atmosphäre dann in die Bedrohlichkeit ab, jeder präsent herausgearbeitete Moment des Trosts wird sofort wieder von Resignation abgelöst. Mit temperamentvollem Feuer und entrückender Virtuosität setzt Apkalna dann im Finale den wohl größtmöglichen Kontrast, die mit dem Pedal gekoppelten Akzente entreißen aus dem unter den pulsierenden Arpeggios liegenden, fanfarenartigen ersten Thema. Diese Verve fällt glücklicherweise auch dem etwas schwerfällig komponierten zweiten Thema des Satzes nicht zum Opfer.

Den krönenden Abschluss des Konzertabends setzt ein weiterer Lehrer Viernes, Charles-Marie Widor, mit seiner bekanntesten Orgelsymphonie Nr. 5. Den ersten Satz hält Apkalna wohltuend unprätentiös, mit jederzeit klarer, abgesetzter Artikulation und duftigen Läufen in der synkopischen dritten Variation des mittelalterlich anmutenden Themas. Mit etwas freierer Tempogestaltung schreitet die Organistin dann durch das Allegro Cantabile, dessen gedehntes erstes Thema sie durch feine Phrasierung der Begleitstimme auflockert.

Das Adagio mit seinen ausgedehnten und verflochtenen Stimmen zelebriert Apkalna als notwendigen transzendentalen Moment vor dem Feuerwerk der finalen Toccata – deren Noten sie noch geschwind mit Tesa am Pult festklebt… Dann erhebt sich eines der bekanntesten Orgelstücke in selten gehörter Vitalität zu einem gigantischen Klanguniversum, in dessen abschließenden Monumentalakkorden alles liegt, was zu sagen ist.

Wie kaum ein anderes Instrument vermag die Orgel als Königin der Instrumente Ehrfurcht erwecken – und wenn Iveta Apkalna dann noch die Schlussakkorde bis ins Unendliche aushält und den Saal in den gewaltigen Klanggewölben gefangen hält, dann kann man sich dieser Ehrfurcht unmöglich erwehren.

Kritik: Bea Mayer