Ich steh‘ nur hier und schieße ins Blaue – Hedda Gabler im Volkstheater (Kritik)

© Arno Declair

Selbstmord als der ‚schöne Tod‘, der finale Akt der Selbstbehauptung oder -aufopferung, die Rettung der reinen Seele in eine bessere Welt, Hektor, beim Abschied von Andromache, Ophelia à la Millais. Doch so einfach geht es nicht zu, in den eng geschnürten, alles andere als unschuldigen Niederungen des gehobenen Bürgertums, in welchen Henrik Ibsens Stück „Hedda Gabler“ spielt, das, inszeniert von Lucia Bihler, vergangenen Freitag, den 27. September im Münchner Volkstheater Premiere feierte.

Angetrieben vom Wunsch nach einem gut situierten Dasein hat Hedda Gabler (Anne Stein) ihr Leben ‚weggeworfen‘, hinein in eine lieblose Ehe mit dem aufstrebenden Wissenschaftler Jörgen Tesman (Jakob Immervoll), den sie wie sein Kumpane, der Amtsgerichtsrat Brack (Timocin Ziegler), bevorzugt mit dem Nachnamen anredet. Doch Tesmans erwartete Beförderung zum Professor, die hauptsächlich die Befriedigung Heddas mannigfaltiger Luxusgelüste ermöglichen soll, ist plötzlich bedroht, als das Paar nach Rückkunft von der Hochzeitsreise erfährt, dass Eilert Lövborg (Jakob Geßner), ein beruflicher Konkurrent Tesmans und ehemaliger Geliebter Heddas, der zwischenzeitlich dem Alkoholismus verfallen war, sich mit einer aufsehenerregenden Buchveröffentlichung ebenfalls als Anwärter auf jenes Amt ins Spiel gebracht hat. Unterstützt wurde Lövborg bei seiner Rehabilitierung von Thea Elvsted (Paulina Alpen), welche sich in der Sorge, ihr Freund könnte im städtischen Versuchungsdschungel wieder dem Trinken verfallen, ausgerechnet an Hedda und ihren Mann wendet.

An die Hedda, die vor Verdruss und Langeweile in ihrem Sofakissen-weichen Leben rotiert; einzig, mit den Pistolen ihres Vaters zu spielen, kann sie noch reizen. Und Hedda rotiert wirklich: Denn das gesamte Spiel ereignet sich auf einer großflächigen, langsam rotierenden Scheibe (Bühne: Jana Wassong), darauf die Darsteller mit ihren wächsernen Rokokokleidern (Kostüme: Laura Kirst) defilieren wie Zuckergusspüppchen auf einer Hochzeitstorte. Wohin man blickt: Kalte Pastelltöne, keine Spur von Rot, alles Blut unter zentimeterdicken Schichten Puder und Schminke begraben. Hedda mustert dieses ihr Umfeld, mit einem sarkastischen ‚Ach wirklich?‘ im Blick. Doch um wen, und um wessen Leben handelt es sich eigentlich? Diese Frage durchzieht das Stück und ist auch in Bihlers Interpretation hervorgehoben. Mit der sadistischen, abwesenden Methodik, mit der man Schorf von einer Wunde pult, bearbeitet Hedda den hoffnungsfrohen Lövborg, bis er zu einem hoffnungslosen Rückfälligen geworden ist, der aus Heddas gnädiger Hand die Waffe zur Selbstrichtung erhält. Währenddessen kreisen um Hedda, die, überlegen-bissgurkig dargeboten von Anne Stein, auf ihrer Drehscheibe umhertigert wie ein Dämon im Bannkreis, die anderen Beteiligten: Ihr einfach gestrickter, um den schönen Schein bemühter Ehemann, der unter Jakob Immervoll einem clownesken, leicht schmierigen Mozart-Imitator gleicht, die meist besorgte Thea Elvsted, zwar überzeugend gespielt von Paulina Alpen, aber infolge des Versuchs, die Figur ihrer allzu mädchenhaften Unschuld zu berauben, etwas uneindeutig geraten, sowie der durchtriebene Brack, der Hedda Avancen macht und mit slapstickhaftem Genuss Biscuits verzehrt.

Lövborgs Suizid geht (vor allem) für Hedda nach hinten los: Anstatt ‚Mut und ein bisschen Schönheit‘ in ihr Leben zu bringen, verstrickt er sie nur noch weiter in ihre abhängige, leerlaufende Daseinsweise, welchem Zustand Hedda schließlich mit der zweiten Pistole ihres Vaters ein Ende bereitet.

© Arno Declair

Und doch: Selbst mit dem Tod bricht „Hedda Gabler“ nicht durch, zu irgendwelchen existentiellen Kernen und Kernfragen. Lucia Bihler zeichnet keine hilflose Frau, die unter der Zentnerlast des sozialen Exoskeletts kollabiert. Hedda strotzt vor Leben, unter diesen maskenhaft geschminkten Gesichtern verbirgt sich keine venezianische Fäulnis. Hedda strotzt aber auch vor Angst vor dem Leben, vor der Selbstermächtigung, vorm konsequenten oder kompromissbereiten Vollzug der so nachdrücklich markierten Verachtung für ihre Umwelt. Heddas Drehscheibe ist kein Schicksalsspinn- oder Ixionsrad, auch keins der ewigen Wiederkehr, sondern der Teller, auf dem sich die konvulsivisch aufgelegten Schallplatten der ewigen Ablenkung drehen. Das selbstgewählte Ende bleibt in Plattitüden abgefasst, der Tod ein Gegenstand des Besitzes. Das Stück und seine Protagonistin können bis zuletzt mit Leben und Tod nichts anfangen: Stattdessen mit Wollen und Haben, mit funktional und kaputt. Wenn die Drehscheibe einmal stillsteht, dann stellt sich nicht etwa ein großes, und nach all dem Playbacksingen und Im-Takt-zu-Cembalo-Musik-sprechen sehr ersehntes silencio ein: Die Maschinerie stockt – und läuft dann weiter.

Während Anne Steins so mitleids- wie hilfloser Hedda, wie sie den von Beginn an vorhandenen faszinierenden Gedanken vom heroischen Abgang immer rigoroser ins Auge fasst, ein Gros der Aufmerksamkeit auf sich zieht, drohen die anderen Charaktere und auch die ganze Handlung zu einer einzigen Randerscheinung zusammenzuschmelzen. Die Verstrickungen Tesmans, Bracks, Theas uns Lövborgs werden konsequent durch das desinteressierte Auge der Protagonistin in den Blick genommen, eine Perspektive, die aber schon recht früh etabliert ist, und der Inszenierung somit überlange retardierende Momente eingibt, die, zwar erfolgreich, aber etwas holprig durch komödiantisch überspitztes, musikalisch unterlegtes Spiel (Musik: Jörg Gollasch) zu verkürzen versucht wird.

Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und war zugleich ein schrecklicher und bemitleidenswerter Anblick. Lucia Bihler gelingt eine tiefgehende, differenzierte Hedda Gabler, eingebettet in eine eigenwillige, bisweilen widerwärtige, aber eindrucksvolle Bühnenästhetik.