Wenn sich bis heute nichts geändert hat – „Erinnerung eines Mädchens“ im Residenztheater

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Nach den Biergärten und den Geschäften öffnen nun auch die Theater wieder zaghaft die Türen und überlegen natürlich: Was bieten wir der Stadt nach so langer Durststrecke an? Das Residenztheater traut sich mit einer Regiepremiere und einem Thema, das man getrost ‚heavy‘ nennen kann, gleich einen ordentlichen Brocken an den Start zu bringen. Kein unterhaltsames Geplänkel, um die Zuschauer*innen zu umschwärmen, sondern: Real Talk.

© Sandra Then

Das jedenfalls ist der Text Erinnerung eines Mädchens von Annie Ernaux. Diese eigenen Erinnerungen veröffentlichte die französische Autorin 2016, als sie mit 76 Jahren auf ihr 17-jähriges Ich zurückblickt. In diesem Text würden sich die meisten Frauen bis heute wiederfinden. Als unerfahrenes Teenie-Mädchen die ersten sexuellen Erfahrungen: einfach machen was der Typ will, weil der sich auskennt, weil man ihn nicht enttäuschen will… Als Nutte gelten oder als ‚Matratze‘ oder heute vielleicht charmanter als ‚easy to have‘, nur weil man macht, was die Typen auch machen: sich ausprobieren. Schon in Wedekinds Stück Frühlings Erwachen von 1891 geht es um genau diese Themen, an denen sich bis heute wenig geändert hat. Beide Geschlechter entdecken sich und ihre Umwelt in den so spannenden Lebensjahren irgendwo zwischen 12 und 22. Nur dass schon bei Wedekind, ebenso bei Ernaux und bis heute, nicht zwei Teenager aufeinander zugehen und zusammen herausfinden, was sie mögen, sondern, dass wie heute noch so viele Frauen ihre Unschuld an die Angst verlieren, verklemmt oder ein Spätzünder zu sein. Wir haben 2021 und immer noch sind junge Mädchen nicht gleichberechtigt genug, selbst zu entscheiden, wann und was sie sexuell entdecken wollen, sondern die sozialen Umstände entscheiden. An dieser Stelle muss der Hut vor dem Residenztheater gezogen werden, dieses so wichtige und aufschlussreiche Stück so kurz nach der Wiedereröffnung auf den Plan genommen zu haben – mit genau diesem emanzipierten und klugen Text. Schließlich können sich viele junge (und ältere) Menschen nicht vorstellen, dass schon die liebe Oma Annie sich im Ferienlager mit unterschiedlichen Typen nackt im Schlafsack rumgewälzt hat.

Doch bekanntlich sind Stückauswahl und Text nur die halbe Miete im Theater, wichtig in diesem Rahmen ist auch Silvia Costas Regiearbeit. Im schwach beleuchteten Bühnenbild, das in Zusammenarbeit mit Anna Schöttl ebenfalls von Costa konzipiert wurde, tauchen drei gleich gekleidete Frauen auf: Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab – all die heute alt gewordenen, Oma Wagner, die altere Dame von nebenan oder Tante Marion, es könnte jede ältere Dame sein, denn für 17-Jährige sehen sie gleich aus. Vielleicht auch all die altgewordenen Teenager von 1958.
Nachdem die Darstellerinnen sich die Perücken von den Köpfen ziehen, wird die Symbolik noch deutlicher – egal ob brünett, blond oder Rotschopf, das folgende passiert so vielen Mädchen. Das Folgende ist dabei keine traumatische Vergewaltigung. Es ist ein belangloser Sommer im Ferienlager, wo die jungen Leute als Betreuer für die Kinder etwas Geld verdienen. Dieser eine Typ – er wird nur H genannt – wird beschrieben, wie er sich auf die unerfahrene Annie stürzt und sein Interesse unmissverständlich bekundet. Sie fühlt sich unendlich geschmeichelt. Dass er sie nur ausgewählt haben könnte, weil sie unerfahren und widerstandslos ist, kommt ihr nicht in den Sinn.

© Sandra Then

Silvia Costa inszeniert die drei Darstellerinnen als Erzählerinnen des Textes, als Repräsentantinnen, sie verteilt keine klaren Rollen und so verstärkt die Inszenierung die Textgrundlage mit starker, aber niemals plakativer Bildsprache. Zum Beispiel: Beim Thema Periode wird nicht mit Binden herumgewedelt, sondern ein rotes Seidenband ist Teil der sehr präzise auf den Text angepassten Inszenierung. Könnte auch den roten Faden der Geschichte darstellen – die möglichen Interpretationen sind durch diese bewusst unkonkreten Gestaltungsmittel sehr vielfältig und trauen dem Publikum eigene Gedanken und Assoziationen zu. Und das empfiehlt sich bei einem so sensiblen Text absolut. Schließlich fällt jeder/m im Publikum etwas ein, wir alle driften ab, in die eigenen Erinnerungen, wenn es um das erste Mal geht. Daher ist es klug von Costa den Text nicht nachzuspielen, sondern den Betrachter*innen Raum für Fantasie zu lassen. Besonders bemerkenswert ist dies, da es sich um eine junge Regisseurin handelt, kommen doch viele derer mit frühen Arbeiten und wollen dem Publikum IHRE Weltsicht Nahe bringen. Hier hält sich Erinnerung eines Mädchens sehr gekonnt zurück. Auch den Wechseln zwischen Erinnerung, also der Erzählung, was 1958 passierte, und der Reflexion über die eigene Erinnerung im Text, setzt die Inszenierung sehr gekonnt um. Bereits im Eingangsbereich des Marstalls werden die Eintreffenden von einer Vitrine mit Briefen, Dokumenten und Fotos abgeholt.

Fragen wie ‚Wie schauen wir auf unsere eigenen Vergangenheit? Muss nicht Erinnerung immer im sozialen Kontext weiter gegeben werden?‘ werden zum Beispiel durch das gewissenhafte Ausbreiten oder Wechseln von Kleidern auf der Bühne verdeutlicht. So geht es in diesem Stück um mehr, als die sexuellen Erfahrungen einer Heranwachsenden – allein schon schwerwiegend genug-, es geht um sozialen Aufstieg. Es geht um das Bild, dass Männer in Frauen auslösen können. Nach dem Ferienlager beschließt Annie für diesen H, den man heute als random Typ beschreiben würde, abzunehmen, um zu beweisen, dass sie es verdient, von ihm begehrt zu werden. Es geht um den aufgeklärten Blick einer emanzipierten Person auf das jüngere Ich, wenn erwähnt wird, sie wäre ja in dieser Nacht vielleicht gekommen, wenn er sie geleckt hätte, was zu fragen sie sich nicht traute. Die 76-jährige Autorin im Jahr 2016 traut sich jedenfalls, das so zu schreiben. Und Silvia Costa traut sich in einer Zeit, in der auf der Bühne alles erlaubt ist, eben keine Vulven und Phallus zu zeigen, sondern in einer sehr vielfältigen, klaren und klugen Ästhetik das Wort in den Vordergrund zu stellen und es durch die Inszenierung dennoch in Ausdruck und Kraft zu verstärken.

Ein sehr gelungenes Stück also, dass jede*n betrifft und mit dem jede*r irgendetwas anfangen kann. Ein Stück, das Zeit und Anregung zum Nachdenken gibt und in einer reichlichen Stunde sehr viele Denkanstöße für hinterher setzt. Übrigens – Shoutout an dieser Stelle – umgesetzt von einem sehr weiblichen Team. Für die Schulkasse die gerade Wedekind durchnimmt, ebenso geeignet wie für Tante Marion. Vielleicht nicht zusammen mit der 17-jährigen Nichte, das könnte einer von beiden peinlich werden.

Kritik: Jana Taendler