Für Ulrich Rasche könnte es kaum besser laufen. „Die Räuber“ sind ein Must-See am Residenztheater und laufen nun das dritte Jahr, aus Dresden wurde „Das große Heft“ gleich mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wer noch keines der Stücke gesehen hat und sich fragt: Was macht dieser Typ nur? Nun, er hat Laufbänder und rhythmische Sprache für sich entdeckt. Was banal klingt, wirkt auf der Bühne sehr eindrucksvoll. Die Konsequenz aus den riesigen, wie Industriemaschinen wirkenden Bühnenbauten: Alle Darsteller müssen Schritt halten. Bei Elektra ist die Form der Wahl ein großer Zylinder, die Drehscheibe, auf halber Höhe, schiebt sich manchmal nach vorn wie eine CD aus dem Laufwerk, der obere Teil kann nach oben oder hinten geklappt werden, sodass nur ein Teil der Drehscheibe zu sehen ist. Im Zentrum der Handlung stehen neben Elektra, gelaufen von Katja Bürkle, deren Schwester Chrysothemis (Lilith Hässle), Mutter Klytämnestra, (Juliane Köhler) und zum Schluss läuft der totgeglaubte Orest (Thomas Lettow) auch noch auf. Häufig finden Zwiegespräche mit dem Chor statt, der in hellen und dunklen Kostümen, wie alle, an Klettergurten hängend wie Schafe, über die Drehscheibe stapft. Elektra ist hell gekleidet, der Rest ihrer Familie dunkel, gibt es hier nur schwarz und weiß? Wenn es nach ihr geht schon. In der Stückvorlage von Hugo von Hoffmannsthal hat sie sich nämlich entschieden. Die Mutter ist das Monster, das den Vater im Bade ermordet hat, dazu noch mit dem „neuen Stecher“ zur Beihilfe. An diesen beiden Tatsachen arbeitet sich der Text ab. Hysterie ist das Gebot der Stunde der Entstehung.
Freuds Theorien waren sehr relevant und psychotische Zustände ein beliebtes Thema. Im ersten Teil des Stückes steht die detaillierte Beschreibung der Bluttat im Vordergrund. Bürkle verkörpert die an Wahnsinn zunehmende Elektra mit solcher Glaubwürdigkeit, dass sie dem Zuschauer richtig unsympathisch wird. Das ist positiv gemeint! Sie tappt hyänenhaft immer weiter, ist gefangen in ihrem Film, der sie im Kreis laufen lässt, erinnert ein bisschen an den manischen Gollum aus Herr der Ringe. Jeder, der nicht für sie ist, ist gegen sie. Die Mutter allen voran, denn Elektra ergreift Partei für den Vater und bringt sich so in Gefahr. Fragen, die in den griechischen Tragödie nie laut gestellt werden, spielen hier eine Rolle: Wie fühlt es sich an, mit Mördern im Haus zu wohnen? Ist der Nächste, wer sich zum Toten bekennt? Angst jedoch kennt Elektra nicht, als sie ihrer Mutter alles, was ihr an Anschuldigungen einfällt vorwirft. Klytämnestra hingegen versucht, das Beste aus der Situation zu machen und bittet Elektra um ein paar aufmunternde Worte. Köhler zeigt die Figur damit psychotisch und verletzlich zugleich. Die mordende Ehefrau, die auch noch Mitleid einfordert. Die Geisteskranke, die dies aber gut verstecken kann. Sie bringt in ihrem so kurzen Auftritt damit eine sehr komplexe Darstellung zutage, die beeindruckt.
Viele Punkte sammelt auch die Schwester bei Elektra nicht, die mit der verkorksten Familie eigentlich nur abschließen, eigene Kinder gebären und ein kleines bisschen privates Glück suchen möchte. Hässle legt Verzweiflung ebenso wie Sehnsucht in ihre Ausführungen über an Zitzen säugenden Nachwuchs. Als der ersehne Orest nach der Hälfte des Stückes immer noch nicht zurück ist, um Rache zu üben, muss Elektra mit dem kleinsten Übel, der Schwester als Komplizin, vorlieb nehmen. Wie es aussieht, wenn eine gänzlich unempathische, vor Rachelust triefende Figur versucht, die Östrogenschwester mit Entbindungsbeistand und Babysittingdiensten zu bestechen, sieht man hier, das Fazit ist beängstigend. Dies spricht für die beiden Darstellerinnen. Drei relevanten Formen des ehemaligen Krankheitsbildes Hysterie werden in den Frauen präsentiert, die süßliche Mörderin, die Muttergefühls-gesteuerte Debile und die Boshafte. Bürkle steigert sich in ihren Wahnsinn immer weiter hinein, wie sie spricht, spuckt sie, was den Eindruck nur verstärkt.
Als Orest schließlich auftaucht, ist sie dermaßen vollgerotzt, dass Lettow schon viel aushalten muss, wenn sie ihm über den Kopf streicht. Die Emotionen steigern sich zwar, aber immer nur in eine Richtung. So bleibt die Figur, trotz der starken schauspielerischen Leistung, sehr eindimensional. Zugute halten sollte man allen Schauspielern, dass es ziemlich schwer ist, trotz Rasche-Chor noch eigenen Stil zu verwirklichen. Den Großteil der Zeit wird nämlich rhythmisch im Takt gesprochen, als schlüge ein Metronom in den Köpfen der Darsteller. Dadurch zeigt sich viel Rasche, für die Schauspieler ist es aber umso schwerer sich zu zeigen. Man denke an die Theorie der Übermarionette von E.G. Craig, bei der der Schauspieler der Körper ist, dem von Regisseur Leben eingehaucht wird. Ebenfalls erwähnenswert: die Live-Musik von Monika Roscher, die die Stimmung mit einem sechsköpfigen Ensemble aus Streichern und Percussion verstärkt, teilweise ins unerträgliche spannt. Die Musiker sitzen auf der Bühne, dem Zuschauer ist also klar: jeder Schritt kostet Kraft, jeder Ton wird einzeln gespielt. Es ist viel Theaterhandwerk zu sehen in dieser Inszenierung und Rasche beherrscht sein Handwerk. Das Stück hat Wucht und Schlagkraft, ist mit reichlich zwei Stunden nicht zu lang. Im Rhythmus zwar homogen, aber nicht eintönig. Einziger Haken: Dies ist das dritte Mal, dass Rasche exakt so inszeniert. Andererseits: Castorf macht das auch seit Jahren.
Eine Anmerkung noch zum Schluss: häufig wird über zu viele männliche Rollen geklagt, hier stehen nur Frauen im Zentrum, die Besetzungsliste fällt mit acht zu vier ebenfalls klar weiblich aus! Wenngleich alle Frauen psychische Wracks sind.
Kritik: Jana Taendler