Die Entfesselung der Lebenslüge – „Ein wenig Farbe“ im Hofspielhaus (Kritik)

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Die Perlen verstecken sich oft, man muss sie lange suchen – und hat man sie gefunden, sind sie zumeist immer noch im Besitz einer Muschel. In jedem Fall ist es ein langer Weg, bis man zu dieser Perle gelangt. So ist es derzeit auch mit den Spielplänen der Theater: man plant, werkelt, arbeitet zu etwas hin, dann klappt es aus pandemischen Gründen doch nicht und der Weg bis zur Aufführung verschiebt sich ins Endlose. Doch in allem dem entstehen oft spontane und schöne Ideen. Christiane Brammer, Intendantin im Hofspielhaus, hat so im Lockdown die Aufzeichnung der Uraufführung des Ein-Personen-Musicals „Ein wenig Farbe“ gesehen – ein feinfühliges Werk über Transgender-Personen, damals in Wien gesungen von Pia Douwes. Nun kommt es am 28. Oktober 2020 zur Premiere im Hofspielhaus, die Besetzung ist die Münchner Sängerin Annette Lubosch.

© Lisa Atzenbeck

Die Stimmung an diesem Mittwochabend ist angespannt. Kurz zuvor verlautbarte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Veranstaltungen ab dem kommenden Montag, 2. November, bis zum Ende des Monats verboten sind. Eine Premiere also, bei der nur noch eine weitere Vorstellung gespielt wird? Die letzten Theatertage, bevor alles in den Winterschlaf geht? Das Hofspielhaus blickt nach vorne, denn immerhin ist es ja noch möglich, Veranstaltungen abzuhalten und dann gibt es eben weitere Vorstellungen, sobald es weitergehen darf. Das Publikum ist etwas mehr getrennt voneinander, viele Plexiglaswände achten darauf, dass das Gastronomie-Prinzip von maximal fünf Personen, nach dem gespielt wird, eingehalten wird. Auf der Bühne: ein Bett, ein kleines Tischchen, eine Sporttasche und beige Banner. Im Laufe von „Ein wenig Farbe“ fallen bunte Stoffläufe herunter, die die kühle Atmosphäre erwärmen – ein wenig Farbe im Leben, umso mehr man sich selbst akzeptiert.

© Petra Schönberger

Um Selbstakzeptanz, um Einsicht und die Verarbeitung im Umfeld geht es letztendlich, wenn Protagonist Klaus bemerkt, dass er eigentlich immer weiblich gewesen ist. Doch wie damit umgehen? Familie mit Kinder, Job, Freunde? Annette Lubosch stellt die verschiedenen Facetten und Zweifel tiefgründig, dabei aber doch in manchen Momenten humorvoll da. Den Spagat, den das Musical von Rory Six versucht, sieht man gespannt entgegen, denn so ernsthaft und bedrückend das Thema sein mag – nur mit Humor kommt man durch schwere Zeiten. Das Publikum wird angesteckt von den emotionalen Lagen von Helene, wie der transformierte Klaus nun heißt. Wenige Stunden vor der finalen Geschlechts-OP spielt die Erzählung, die chronologisch in der Kindheit beginnt und im selbstdefinierten Ich endet. Dazwischen: Entdeckung, Findung, Outing, viel Freuden, noch mehr Tränen. Zwischen Schwärmereien für Jugend-Schwarm David Steiner und dem Kontaktabbruch des Sohnes Elias befindet sich der Zuschauer. Und womöglich ist es das erste Mal, sich überhaupt mit der Materie von Personen zusammenzufassen, die im falschen Geschlecht geboren worden oder in einer Identitätskrise stecken.

Doch nicht nur thematisch geht es brandaktuell und feinfühlig voran, auch musikalisch weiß Six absolut, wie man mitreißende, einprägsame und wirksame Musik komponiert. Schon die Eröffnungsnummer „Ein Wunder passiert“ verlangt das gesamte Gesangsspektrum von den Tiefen bis zu den Höhen in Kopfstimme alles ab, was Lubosch gekonnt meistert. Einzig die Tatsache, dass die Instrumentale vom Band kommen, ist etwas enttäuschend. Lieder wie „David Steiner“ haben dennoch einen fetzigen, rockigen Ansatz und verlangen vollen Stimmeinsatz. Das lässt das rund 70-minütige Stück, das das Hofspielhaus mit einer Pause in zwei Hälften teilt, zu keiner Sekunde langweilig werden und auch die Intimität, die auf Dauer wohl zu vereinnahmend wäre, etwas auflockern. Am Ende bleibt eine spritzige, aber angenehm ernste Interpretation von „Ein wenig Farbe“, das mit großartiger Musik, einer vielseitigen Hauptdarstellerin und einfachen, aber wirksamen Inszenierungsideen auf ganzer Linie überzeugt. Definitiv: eine Perle.

Kritik: Ludwig Stadler