Dreaming Light – Anathema & Alcest im Backstage Werk (Konzertbericht)

Anathema und Alcest – das ist die perfekte Gelegenheit, sich einen Abend lang hinzustellen, mit dem Bierbecher in der Hand als einzigem Wirklichkeitsanker, und sich hinter seinen Augenlidern bzw. Haaren einzuschließen, sich treiben und umschmeicheln zu lassen… ein bisschen was habe ich trotzdem gesehen.

Ein sehr gemischtes Publikum, an diesem 20. Oktober 2017 im Backstage Werk, sowohl was Alter und Geschlecht als auch was Szene-Zugehörigkeit angeht: Vom Pärchen in schweren Stiefeln, Urfaust-Shirt und Black Metal-Kutte über den typischen mittelalten Progfan bis hin zu weißem Hemd und Sakko war alles vertreten – was den Helden dieses Abends, noch bevor sie überhaupt die Bühne betreten haben, ein positives Zeugnis ausstellt.

Pünktlich um 19:30 Uhr treten Alcest vor eine sich begeistert bemerkbar machende Menge, die den Magen des Backstage Werks zwar nicht bis zum Erbrechen füllt, aber sicherlich gut sättigt. Ebenso pünktlich (nach ziemlich genau 60 Minuten) werden die Franzosen wieder abtreten, dazwischen liegt ein Ausflug ins Traumland, auf den der Vierer um Sänger und Gitarrist Neige routiniert einlädt. Wie ein dünner, androgyner Buddha lächelt er ins Publikum, selbst screamend taucht er kaum aus seiner Entrücktheit auf. Abgesehen von einigen Mitklatsch-Aufforderungen und sporadischen Ansagen bleibt die Band zurückhaltend, lässt Raum zwischen sich und dem Publikum, in dem die feenhaften Musik ihre Atmosphäre entfalten kann.

Schöne Beobachtung: Die Songs vom letzten Album „Kodama“ („Kodama“, „Eclosion“, „Oiseaux de proie“) fühlen sich so natürlich und richtig in der Setlist an und werden fast ebenso begeistert begrüßt, wie die Klassiker „Autre Temps“ oder „Percées de lumière“. Darüber hinaus bekommt man noch „Là où naissent les couleurs nouvelles“ und als Closer „Délivrance“ vom (reinen Shoegaze-) Album „Shelter“ zu hören. Dann ist es auch schon wieder vorbei und die Band räumt die Bühne – für die Roadies, die mehr als die nächste halbe Stunde damit beschäftigt sein werden, alles bereit zu machen, für die hohen Herren und Dame von Anathema. Markanteste Änderung: Dem Schlagzeug wird ein dreistöckiger Keyboardturm inklusive Laptop zur Seite gestellt.

AlcestKodama / Là où naissent les couleurs nouvelles / Oiseaux de proie / Eclosion /Autre temps / Percées de lumière / Délivrance

Gitarrist/Sänger/Keyboarder Danny Cavanagh schreitet gemächlich an den Bühnenrand, die Hände in den Hosentaschen, hinter einem großen Kopfhörer türmen sich seine im Spot glühenden Haare, lang steht er einfach da, mustert sein Publikum, lässt die Augen hier und dort ruhen, deutet manchmal ein kleines Lächeln an. Der instrumentale Song „San Francisco“ bildet den Auftakt, ehe Anathema mit „Untouchable“ Reiseflughöhe erreichen – selbiges gilt für die Stimmung im Zuschauerraum. Dennoch scheint es, als schlügen die Wellen der Euphorie (gerade bei den Jüngeren) nicht ganz so hoch wie bei Alcest – was aber auch an der eher fein ziselierten Machart des anathemischen Klangkörpers liegen mag. Sicher ist, dass einige Fans tatsächlich „vor allem wegen der Vorband“ gekommen sind – aber wer würde denn die schöne Anathema von der Bettkante stoßen, nicht wahr?

Von der Leinwand in ihrem Rücken machen die Musiker mehr Gebrauch als Alcest, die sich darauf beschränkten, ihr Logo zu präsentieren: Videoclips und Visualisierungen untermalen (gottseidank unaufdringlich) das seelenvolle Klangkino, das der familiäre Fünfer abspult: Danny Cavanagh nennt rechte Bühnenseite und Leadgitarrenarbeit sein Eigen, links tummeln sich Sängerin Lee Douglas und Bassist Jamie Cavanagh, hinter ihnen bearbeitet Daniel Cardoso die Felle. Und im Zentrum: Vincent Cavanagh, abwechselnd hinter (Akustik-) Gitarre und Keyboard. Der Mittelpunkt, der Frontman, könnte man meinen, doch Anathema wirken vielmehr wie eine Einheit, ein kleines Orchester. Das mag auch am (bezaubernden) Gesangszusammenspiel von Douglas und der beiden Cavanaghs liegen, dem sich nicht wenige Stimmen aus dem Publikum zugesellen – Songs wie „Endless Ways“ vom neuen Album „The Optimist“ oder natürlich „Dreaming Light“ laden ja auch sehr dazu ein. Das sei vielleicht Dannys liebster unter seinen eigenen Songs, verrät Vincent. Der Traum vom Licht kommt auch gerade zur rechten Zeit, denn nach einer Stunde lässt die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft merklich nach. Über „A Simple Mistake“ gelangt die Band zum Closer der Setlist – und das ist natürlich „Closer“. Licht aus, Applaus. Obwohl sie es könnten, lässt sich das Gespann nicht bitten, zu dem, was man Zugabe oder besser Epilog nennen könnte, wiederzukommen.

„Distant Satellites“: Danny animiert die wieder völlig erwachte Menge erfolgreich zum Mitsingen. „So let it take me away“ – mit Freuden.
„Get out das Handy-Lichten“, versucht er sich später an fremdsprachlicher Kommunikation. Zu „Springfield“, dem dunklen Diamanten auf „The Optimist“, werden also eifrig die Taschenlampen geschwenkt, der ein oder andere hat gar noch ein Feuerzeug dabei. Zum Text („How did I get here? / I don‘t belong here“) scheint mir das zwar nicht so recht zu passen, aber was soll’s.

„Was soll das?“, fragt sich mancher vielleicht, als Danny nach „Back To The Start“ plötzlich anfängt, Pink Floyds „Shine On You Crazy Diamond“ zu intonieren. Dass Vincent dazu noch den Text von „See Emily Play“ rezitiert, wird vielleicht bemerkt oder auch nicht, denn dann wird aus dem Pink Floyd-Mischmasch „Fragile“: Mit der triumphalen und relativ heavy tönenden Gothicrock-Hymne hat man das endgültige Finale erreicht.

AnathemaSan Francisco / Untouchable / Can’t Let Go / Endless Ways / The Optimist / The Lost Song, Part 3 / Lightning Song / Dreaming Light / Pressure / A Simple Mistake / Closer – ZugabeDistant Satellites / Springfield / Back to the Start / Fragile Dreams

Fazit: Zwei Stunden wurde musiziert und, nachdem sich die Band lang und herzlich verabschiedet hat, ist die große Mehrheit wohl auch bestens versorgt und strebt dem Ausgang oder dem Merchstand an. Dass es Stücke aus der weiter entfernten Vergangenheit der Briten zu hören geben würde, damit hat wohl keiner gerechnet – hätte auch nicht gepasst.
Gepasst hat aber in der Tat so ziemlich alles an diesem Abend und, um diesen Bericht nicht mit Genörgel enden zu lassen, verkneife ich mir eine Bemerkung über die nicht gerade niedrigen CD/Vinyl-Preise und weise darauf hin, welch ein großer Wurf Anathema mit dem im Juli erschienenen „The Optimist“ gelungen ist, das die Setlist zurecht dominierte.

 

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