Wer reitet wen? – „Die drei Musketiere“ im Cuvilliéstheater (Kritik)

Reife des Mannes: Das heißt, den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.

– Friedrich Nietzsche

© Sandra Then

Manche Geschichten haben sich dem kulturellen Gedächtnis und Bewusstsein so nachhaltig eingeprägt, dass es nicht mehr nötig ist, ihren Ursprung zu kennen, um auf stehende Assoziationen zugreifen zu können, wenn die entsprechenden Stichworte fallen; ihre Motive finden sich wieder und wieder verarbeitet und weitergesponnnen, sei es die Odyssee, das Buch Hiob, oder die Geschichten aus 1001 Nacht. Und auch ohne je auch nur eine Zeile von Alexandre Dumas gelesen zu haben, und selbst, ohne eine der zahllosen Verfilmungen gesehen zu haben, ersteht im Geiste beim Stichwort „Die drei Musketiere“ sogleich das Bild von schneidigen Degenkämpfern, in hohen Stiefeln, engen Hosen und ausgreifenden Hüten, und natürlich der Kampfruf der edlen Kameraderie: „Einer für alle, alle für einen!“

Nun ist Dumas‘ Werk ein Abenteuerroman, dessen Qualität sich vor allem durch Spannung und Rasanz definiert, wo also der inhaltliche Anknüpfungspunkt für eine ergiebige Bühnenadaption jenseits einer möglichst effektiven Reproduktion dieser Qualitäten liegen kann, ist nicht von vornherein abzusehen.

Aber abzusehen ist ohnehin nichts bei Antonio Latellas und Federico Bellinis genial-absurder Umsetzung des Stoffes. Die Produktion, die der neue Intendant des Residenztheaters, Andreas Beck aus Basel importiert hat, feierte am Sonntag, den 20. Oktober 2019 im Cuvilliéstheater Premiere. Beginn: 18:30 Uhr – der Vorhang ist zurückgezogen und zeigt die völlig entleerte Bühne, auch die Saalbeleuchtung wird nicht abgestellt, als Nicola Mastroberardino, Michael Wächter, Max Rothbart und Vincent Glander a cappella singend von hinten her durch den Saal zur Bühne laufen.

In den folgenden zwei Stunden gibt es viel zu sehen, nur eines nicht: dass die vier Darsteller in die Rollen von d’Artagnan, Athos, Porthos und Aramis schlüpfen und „Die drei Musketiere“ aufführen. Vielmehr sind da vier begnadete Mannsbuben zu sehen, die scheinbar der Geschichte mit halbem Ohr zuhören, manchmal aufhorchen, in vollendeter, verspielter Respektlosigkeit über das sinnieren, was nur dem auffällt, der der vordergründigen Handlung gegenüber taub ist.

Warum ist immer die Rede von drei Musketieren, wo es doch eigentlich vier sind? Wer gehört dazu und warum? Wenn überhaupt jemand dazugehören soll, muss auch jemand nicht dazugehören… Und was denkt sich eigentlich d’Artagnans Pferd dabei?

© Sandra Then

Es ist eine pure Freude, zu sehen, wie Mastroberardino, Wächter, Rothbart und Glander nicht die drei oder vier Musketiere noch auch deren Diener noch auch deren Pferde spielen, sondern: sich selbst beim Spielen alles dessen spielen. Die Schauspieler stehen abseits von jedem Verhältnis zur Authentizität – sie sind ebenso wenig authentische Musketiere als authentisch sie selbst – sie stehen als selbstgewisse Artisten auf und abseits dieser Bühne, es gelingt ihnen, die Leichtigkeit und den seltsamen Schwebezustand von Kinderspielen herzustellen, wo es keine Trennung zwischen dem wahren und dem verkörperten Selbst gibt, und ersteres nicht als selbstreferentieller Hemmschuh aus Angst vor entblößter Widersprüchlichkeit stets zu Mäßigung und Bescheidenheit mahnt. Stattdessen: sich mit aller Selbstverständlichkeit der Welt spielend spielen und dabei immer wieder in die Selbstvergessenheit des Spiels hineingleiten (wodurch die Grundelemente der Handlung der „drei Musketiere“ in irgendeiner Form zumindest anzitiert werden), in Träumen träumen, wobei doch gewisse Konstanten immer gleich bleiben, ganz gleichgültig, welcher Verbalisierung sie unterzogen werden: Wer gehört dazu und wer nicht, wer ist der eine, für den alle da sind, und wer ist es nicht?

Mit der selben kindhaften Respektlosigkeit, die alles mit gleicher Selbstverständlichkeit belegt wie sich selbst und daher auch alles ohne jede Scheu hinterfragen, angreifen darf, behandelt die Inszenierung nicht nur Dumas‘ Geschichte, sondern die Schauspieler auch das Publikum, sie kobolzen durch die engen Reihen, lassen jede Scheu vor Beurteilung vermissen: Schaut, wir spielen die drei Musketiere!

© Sandra Then

Es entsteht mitunter der Eindruck, in einer Schachtelerzählung von Stanisław Lem gefangen zu sein; ab einem gewissen Zeitpunkt ist der des Ausgangs kaum mehr präsent, es stellt sich eine atemlose Wirrnis ein, das scheinbar endlose Kippen der Oberfläche füllt den Horizont; und plötzlich findet man sich, Lachtränen in den Augen, rhythmisch klatschend, während auf der Bühne vier Herren in farbigen Anzügen zum Radetzky-Marsch mit geschürzten Lippen eine Art Pferdeballett aufführen.

Und doch ist dies kein Klamauk und keine Parodie: Die Spiele der Kinder sind eine todernste Angelegenheit; und das Lachen, das die vier Darsteller so meisterlich hervorzurufen wissen, entspringt kaum je auf dem einen oder anderen Wortsinn, bzw. der Verfremdung desselben, sondern mehr einer physiologischen Reaktion auf die scheinbar traumwandlerisch natürliche Komik von Mimik, Gestik und Sprachklang. Der (Wort-)Witz, der nach dem ersten Erzählen beinahe allen Wert einbüßt, der früher oder später das Ungehörte aus dem Unerhörten schöpfen muss, der überhaupt eine Bereitschaft zum Gelächter voraussetzt, um wirken zu können, kommt hier nicht zu Einsatz, ist Sache der Kinder und ‚reifen Männer‘ nicht. Latellas Musketiere sind ein – reines Vergnügen.

Kritik: Tobias Jehle