Eigentlich wurde schon so viel über Daniel Kehlmann geschrieben, dass jedes Wort nur eine simple Wiederholung wäre. Allerspätestens seit „Die Vermessung der Welt“ (2005) gehört er zur absoluten Speerspitze deutschsprachiger Literatur, wenn er nicht sogar die Spitze dieser ist. Dass er immer noch mit seinen Geschichten fesseln kann, bewies er eindrucksvoll am 18. Oktober im Residenztheater München, eine seiner wenigen Stationen auf der Lesereise zum Roman „Tyll“, welcher Anfang Oktober erschien.
Die kurze Einführung übernahm Sabine Rüter, die die Zuschauer, bzw. besser: Zuhörer, im Namen des Residenztheaters begrüßte und ebenso zum Ausdruck brachte, wie froh man sei, so einen großen Namen der Bücherwelt im Theater zu haben. Bereits bei der kurzen Autor-Biografie und der Inhaltserklärung bemerkte man den Respekt, fast ein wenig Ehrfurcht davor, wen sie ankündigen durfte. Dabei war es, als Daniel Kehlmann die Bühne betrat, kein sonderlich aufregender Moment. Bodenständig und unscheinbar wirkte er, fast schon ein wenig durchschnittlich, wobei das, was er erschaffen und erreicht hat, alles andere als durchschnittlich ist. Von seinem Roman „Ruhm“ wurden rund 900.000 Exemplare in Deutschland verkauft, von „Die Vermessung der Welt“ gar weltweit über sechs Millionen Bücher. Neben einer Poetik-Dozentur in Frankfurt unterrichtet er derzeit an der New York University – aber davon erzählte er nichts. Er freue sich hier zu sein und habe doch ein wenig Respekt, hier im Residenztheater aufzutreten, sagte er. Nur kurz waren die Worte an die Audienz, maximal eine Minute, dann begann er bereits mit dem ersten Kapitel.
Kehlmann las zwei ganze Kapitel aus seinem neuesten Werk „Tyll“ – und er nahm das Wort „Lesung“ ernst. Während etliche Autoren etwas von der Schaffensphase erzählten, vom aktuellen Leben, womöglich auch einfach nur Fragen aus dem Publikum beantworteten, las Kehlmann einfach vor nur, ununterbrochen, über 95 Minuten lang. Was wie eine sich arg ziehende Veranstaltung klingen mag, war aber letztendlich exakt das Gegenteil. Und das lag an vielen Punkten: an der Sogwirkung der Texte, dem Spiel mit den Worten, dem Aufbau einer Kurzgeschichte im Gesamtkontext. Das Buch selbst verläuft anachronistisch, die Kapitel 1 und 3 wurden vorgelesen, aber da im Buchkontext auch alles etwas durcheinander kam, störte es wenig. Die Kapitel von Kehlmann sind auch weniger eine zusammenhängende und strickt dem roten Faden folgende Geschichte, es sind mehr eigene Kurzgeschichten innerhalb eines Romans; Kurzgeschichten, die genug Stoff und Tiefe für eigene Bücher ergäben; Kurzgeschichten, die jedes Mal aufs Neue faszinieren und fesseln. Kehlmann liest und liest, und währenddessen versinken die Münchner immer mehr in der unbeschreiblichen Welt, die teils historisch, teils kreiert erscheint, in der Welt der Figur „Tyll Ulenspiegel“, der zwar in beiden Kapiteln eine Rolle übernimmt, nie aber den Fokus oder die Erzählperspektive einnimmt.
Liest Kehlmann ruhig, routiniert, aber sehr konzentriert von der fiktiven Figur Martha eines Dorfes oder des „dicken Grafs“, der auf der Suche nach Tyll ist, ist man automatisch gezwungen zuzuhören. Sein Schreibstil ist unantastbar fesselnd, lebendig von der actio und reactio zwischen den Figuren, überraschend im Situationsgeschehen, manchmal freiwillig unfreiwillig komisch, oft auch bewusst lustig. Dabei ist die Thematik des 30-jährigen Krieges keine lustige, keine amüsante. Die Geschehnisse in den Kurzgeschichten, welche noch kurz erheitern mögen, sind es auch nicht. Selbst wenn ein Wechselbad der Gefühle durchlaufen worden sein mag, das Ende mag dabei selten das Optimale sein – Kehlmann ist zu keinem Zeitpunkt einem positivem Ende verpflichtet und entzieht sich auch aufgrund der historischen Zeit jeder Rechtfertigungsgrundlage. Krieg war und ist niemals eine angenehme Zeit – bereits im ersten Kapitel wurde das mehr als deutlich klar.
Kehlmann ist intelligent, keine Neuigkeit, aber zu keinem Zeitpunkt arrogant-intelligent oder gar überheblich, er wirkt ruhig, vielleicht sogar beruhigend, sich seines Auftrittes bewusst, dennoch ein wenig aufgeregt-verunsichert und dabei doch etwas ob des großen Raumes verloren. Der honorierende Applaus dürfte ihn aber überzeugt haben, alles richtig gemacht zu haben. Das Münchner Publikum war schließlich hier, um zuzuhören, und genau das haben sie getan. Wem nun immer noch eine Frage auf der Zunge brannte, konnte sie anschließend bei der Signier-Einheit stellen. Kehlmann ließ seine komplette Bibliografie verkaufen, während er nebenan sympathisch und bereitwillig Bücher unterschrieb. Jeder, der also noch 15 Minuten investierte, wurde mit einer kurzen Begrüßung und vor allem einer persönlichen Signatur belohnt.
Übrigens: Sollte die Ludwig-Maximilians-Universität anfragen, sagte Kehlmann, während das „Ruhm“-Exemplar unseres Redakteures signierte, wäre er gerne bereit, als Gastdozent ein Semester Poetik zu unterrichten. Ein Auftrag an die LMU!
Ein gelungener Abend, der das hielt, was er versprach. Ohne Zweifel lässt sich sagen: Daniel Kehlmann und Christian Kracht sind die stärksten Vertreter der hochwertigen, deutschsprachigen Literatur.
Bericht: Ludwig Stadler
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