16 Jahre lang war sie die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und durch ihren starken außenpolitischen Fokus und die enge Zusammenarbeit mit der EU stets auch eine der mächtigsten Personen der Welt: Dr. Angela Merkel. Es ist also eine beachtliche Meldung, wenn die Frau, die weltweit annähernd jede Person schon einmal gehört haben dürfte, nach München kommt, um dort einen Abend zu gestalten. „Freiheit“ ist der Titel ihrer Autobiografie, die sie 2024 veröffentlicht hat und in der sie auf ein bewegtes Leben zwischen DDR, Wissenschaft und Politik zurückblickt. Am 12. Mai 2025 lässt sie genau dieses Leben anhand ihres Werks Revue passieren und gibt in der restlos ausverkauften Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München einen spannenden und überraschend humorvollen Einblick in ihr Denken und Wirken.
Um kurz nach 19 Uhr brandet plötzlich Applaus auf – Dr. Angela Merkel kommt direkt über den Haupteingang durch den kompletten Saal Richtung Bühne, hinter ihr die Leitung der LMU und u.a. Prof. Dr. Armin Nassehi, der seit Jahrzehnten in der Soziologie lehrt und durch seine Aktivität in der Leopoldina auch des Öfteren Kontakt zu Merkel gehabt haben dürfte. Eine Einführung gibt der LMU-Vizepräsident Prof. Dr. Oliver Jahraus persönlich, geht kurz auf die Historie der LMU und die Parallelen zur Biografie der Kanzlerin ein und hofft, dass die erste Lesung in einem wissenschaftlichen Haus auch etwas Besonderes für sie sein möge. Erst dann betritt die Bundeskanzlerin a.D. unter großem Applaus die Bühne der Großen Aula und nimmt auf dem einzelnen Stuhl Platz. Wer ein Gespräch oder Interview, so wie in vielen anderen Städten, vermutet hat, liegt falsch. Die Veranstaltung mag zwar in der Reihe „LMU im Dialog“ stattfinden, so Merkel, sie selbst monologisiere nun aber.

Dass sie auch allein einen informativen Abend gestalten kann, lässt bereits die Dicke ihres Buchs vermuten: 736 Seiten beschreibt sie ihre Kindheit in der DDR, das Studieren und Promovieren unter erschwerten Bedingungen in ebenjenem Staat, bevor sie mit dem Mauerfall in die Politik wechselt und dann, da sie als junge, ostdeutsche Frau ein gutes Aushängeschild war, so Merkel, in die Regierung gelangt. Den größten Teil der Zeit widmet sie sich tatsächlich diesen Abschnitten ihres Lebens, liest von der Eigenheim-Renovierung in einer Mangelwirtschaft und erzählt ausführlich, wie Gerhard Schröder in der legendären „Elefantenrunde“ in der Wahlnacht vor ihrer Kanzlerschaft mit extremer Rhetorik und großen Phrasen vor sich hin polterte. All das trägt sie mit viel Witz und Elan vor, überraschend locker und humorvoll erzählt sie von vielen Phasen ihres Lebens, natürlich mit dem würdigen Respekt, wenn sie zu den ernsteren Themen während ihrer Kanzlerschaft wechselt.
Die Ukraine spare sie am heutigen Abend aus Zeitgründen zwar aus, aber Israel wolle sie sich widmen. Sie liest Passagen mit Treffen dort vor und endet mit einem deutlichen Plädoyer gegen Antisemitismus und zu jeglicher Bekämpfung von Judenhass. Auch ihre damalige Entscheidung zur Flüchtlingspolitik und der steigende Fremdenhass im Atemzug mit dem Erstarken der AfD werden thematisiert, nicht zuletzt mit einer deutlichen Mahnung an die aktuelle Regierung unter Friedrich Merz: Man solle nicht vergessen, die Ursachen von Flucht zu bekämpfen und nicht stumpf die Grenzen zu schließen. Hinter den Flüchtlingen verstecke sich immerhin nicht nur eine anonyme Masse, sondern Menschen. „Niemand verlässt freiwillig sein Land.“

Großen Beifall gibt es auch für ihre unerwarteten Ausflüge, wie ihre Überlegungen zum gleich verteilten Globus im Gegensatz zur zweidimensionalen Weltkarte, die Europa in den Fokus rücke und Länder wie Australien vermeintlich an den Rand drängt. Dabei ist es lediglich eine Frage der Perspektive, ob nicht auch Australien die Mitte der Welt sein und Europa stattdessen am oberen Ende verweilen könne. Auch ihre immer wieder deutlichen Worte über ihre Anfeindungen und dauerhaft erzwungenen Beweishaltung aufgrund ihrer Herkunft aus Ostdeutschland, untermauert durch freche, geradezu bösartige Artikel verschiedenster Männer aus verschiedenen Jahrzehnten, finden Gehör, immerhin sei sie nur durch ihren Geburtsort bedingt keine schlechtere Demokratin.
Im Gegenteil, vielleicht ist der Freiheitsbegriff von Dr. Angela Merkel gerade deshalb so ehrlich und ernst gemeint, vielleicht auch deshalb der Titel die einzige Option für ihre Autobiografie. Denn egal ob sie danach gestrebt hat oder diese in vollen Zügen ausnutzen konnte: Merkel versteht das Privileg dieses Begriffs im Kollektiv. Am Ende gibt es minutenlange, stehende Ovationen für die ehemalige Bundeskanzlerin, die schelmisch hinzufügt, es sei ja kein CDU-Parteitag, deshalb berühre sie dieser Applaus sehr. Besonders hallt der letzte Satz ihres Epilogs nach, den sie auch in der LMU als Abschluss der Lesung vorgetragen hat: „Freiheit kann es nicht für den Einzelnen geben, Freiheit muss für alle gelten.“
Bericht: Ludwig Stadler
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