„Wenn die Antwort der Mensch ist, was ist dann die Frage?“ – „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ im Münchner Volkstheater (Kritik)

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Griechische Mythologie interessant und aktuell auf die Bühne zu bringen und dabei nicht wie die Nachahmung eines Blockbusters zu erscheinen, ist schwierig, aber nicht unmöglich. „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ vom britischen Dramatiker Martin Crimp, welches seit dem 30. Juni 2019 im Münchner Volkstheater aufgeführt wird, ist eine modernisierte Fassung des Euripides Stoff „Die Phönizierinnen“ und schafft es auf unterhaltsame Art und Weise, dem modernen Publikum die mythologische Geschichte rund um die Stadt Theben und die Nachfahren von Ödipus näher zu bringen.

© Gabriela Neeb

Ödipus, der verstoßene Sohn, kehrte nach Theben zurück, tötete seinen Vater und heiratete seine Mutter Iokaste. Die gemeinsamen Kinder Antigone, Polyneikes und Ethokles wollten die Familienschande verbergen und setzten aus diesem Grund König Ödipus gewaltsam ab, um seine Nachfolge anzutreten. So weit so gut. Jedoch geschieht, was bei Menschen mit Zugang zu absoluter politischer Macht öfters zu beobachten ist: der jüngere Bruder Ethokles will die Krone Thebens, die er in Abwesenheit seines Bruders in dessen Vertretung getragen hat, bei Polyneikes Rückkehr nicht mehr zurückgeben und verstößt damit gegen die zuvor getroffene Vereinbarung. Als Antwort auf Ethokles‘ Weigerung belagert Polyneikes die Tore seiner eigenen Stadt mit einem fremden Heer. Die ständige Gefahr eines Angriffs veranlasst die Mutter Iokaste zu einem Vermittlungsversuch zwischen den Streithähnen, der jedoch scheitert. Die beiden Brüder gehen mit verhärteten Fronten und verbittert auseinander. Währenddessen sagt der Seher Theresias die blutige Eroberung der Stadt vorher, es sei denn es gibt ein Menschenopfer, um die Götter gnädig zu stimmen. Iokastes Neffe schneidet sich daraufhin selbst die Kehle durch. Die anschließenden Kämpfe sind brutal und enden mit Ethokles und Polyneikes im aggressiven Zweikampf. Die Brüder töten sich gegenseitig und Iokaste bringt sich aus Verzweiflung ebenfalls um. Die Schwester Antigone muss zusehen.

Im Mittelpunkt des Brüderstreits steht die Diskussion um politische Theorie und Praxis. Der eine will seine Bürger vor wohl möglichen Leiden beschützen, der Andere besteht auf die Einhaltung einer rechtlich anerkannten Vereinbarung. Aber gilt eine Vereinbarung auch dann noch, wenn sich die Ausgangspunkte fundamental verändert haben? Ist die Umsetzung geltenden Rechts wichtiger als der Schutz von Untertanen, auch wenn dieser Schutz einen absolutistischen Herrscher an der Spitze erschafft, dem durch seine Handlungen immer nur noch mehr Macht zugesprochen wird? Zwischen all diesen Fragen und philosophischen Theorien tümmeln sich die Phönizierinnen – in der Produktion „die Mädchen“- welche in ihrer Position als Anhängerinnen des blinden Sehers Theresias ebenfalls die Zukunft vorhersehen können und allerlei Spielchen mit allen Beteiligten spielen.

© Gabriela Neeb

In der Inszenierung von Regisseurin Mirja Biel erscheinen die Orakel-Frauen als Horror-Zwillinge wie aus einem Stephen King-Roman. Kennen Sie bestimmt aus dem Kino! Die rotzfreche Art von Nina Steils und Ines Hollinger ist nicht nur extrem unterhaltsam, sondern auch brutal direkt und hinreißend provokant. Silas Breidig spielt einen fabelhaft schrägen Theresias, bei dem man sich nie sicher sein kann, ob ihn gerade eine Vision oder doch ein Orgasmus überkommt und Timocin Ziegler (Polyneikes) ergibt gemeinsam mit Nicolas Streit (Ethokles) ein hervorragend authentisches und exzentrisches Brüdergespann.

Vorwissen wird für diese Inszenierung nicht benötigt und die liebevoll chaotische Atmosphäre auf der Bühne verleiht dem Drama mehr Charme und Humor, als Euripides sich hätte vorstellen können. Insgesamt ist diese Produktion eine erfrischende Neuinszenierung eines schwerwiegenden Klassikers, die mindestens den gleichen Unterhaltungswert besitzt wie ein abendlicher Kinobesuch.

Kritik: Anna Matthiesen