Am Ende färbt sich die Bühne blutrot. Ein Notenständer fällt. Anspannung im Publikum, Atemlosigkeit, Erstaunen. Eine Inszenierung, die es schafft bis zum Ende eine unglaubliche Kraft und Dynamik aufzubauen, so dass sich beim Schlussapplaus, wäre da nicht noch die Pandemie, ein jeder aus seinem Sitz erheben will. Anna Bolena feierte am 25. November 2021 Premiere im Staatstheater am Gärtnerplatz.
Die Geschichte des englischen Königs Heinrich VIII. bietet mit seinen sechs aufeinanderfolgenden Ehefrauen viel interessanten Stoff für verschiedenste künstlerische Auseinandersetzung. Der Komponist Gaetano Donizetti entschied sich 1830 dafür, die Handlung seiner neuesten Oper rund um dessen zweite Ehefrau, Anne Boleyn, anzulegen. Sein Werk wurde ein großer Erfolg, was sicher auch mit den unterschiedlichen, spannenden Handlungssträngen zu tun hat. Ein König, der seine Ehefrau betrügt, sie jedoch versucht des Ehebruchs zu entlarven, damit er keine Schande erfährt? Seine Frau, die zwar einen anderen liebt, sich jedoch bisher noch nichts hat zu Schulden kommen lassen? Des Königs Geliebte, die nach wie vor behauptet eine Freundin der Königin sein zu wollen, ihr aber nicht von ihrem Verhältnis mit ihrem Mann erzählen kann? Klingt nach viel Intrigen und einer Bühnenhandlung, die ganz bestimmt nicht langweilig wird.
Die halbszenische Aufführung, für die sich das Gärtnerplatztheater entschieden hat, bringt sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Das Konzept ist an sich spannend, nur selten erlebt man als Zuschauer einen derartigen Aufführungstyp im Theater. Was mit Sicherheit unterstützt wird, ist der Fokus auf den Gesang. Durch den Wegfall szenischen Ausspielens und die Möglichkeit, sich dem Text und der Noten durch einen Blick in die Partitur noch einmal bewusst zu werden, erhalten die Sänger:innen die Chance, sich vollkommen in den Gesang hineinfallen zu lassen, den Fokus ganz klar auf die Stimme gerichtet zu haben. So entstehen bravouröse Musik-Momente, die mehr als nur einmal Gänsehaut erzeugen. Jennifer O’Loughlin in der Titelrolle überzeugt durch eine beständige, musikalische Ausdruckskraft, die unter die Haut geht und ihre Gegenspielerin Margarita Gritskova füllt den Theatersaal immer wieder mit geballter Stimmgewalt. Sava Vemićs tiefer, durchdringender Bass unterstreicht passend die Autorität und Unnachgiebigkeit des englischen Königs, während Lucian Krasznec als Annas Geliebter den Liebesschmerz sowie die nicht enden wollende Hoffnung auf Glück in seiner ausdrucksstarken, gefühlvollen Stimme mit sich trägt.
Die Bilder, die auf der Bühne entstehen, sind trotz einiger, umherstehender Notenständer überzeugend, besonders wenn der Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz noch zusätzlich die Szenerie betritt. Eine Leinwand im Hintergrund unterstreicht die jeweilige Wirkung der Szenen und so findet die Inszenierung zwar in einem cleanen, ruhigen, wenig überladenen Rahmen statt, worunter jedoch der expressive, starke Charakter der Aufführung um nichts einbüßt. Einziges Manko, das das halbszenische Konzept mit sich bringt, ist die deutlich auffallende Verwirrung der Sänger, sollten Sie sich einmal in ihren Noten verlieren. Dies ist zwar nur selten der Fall, dennoch kann an mancherlei Stelle die emotionale Ausdruckskraft nicht vollkommen erreicht werden, da der Kopf mit der Suche nach der richtigen Stelle im Notentext beschäftigt zu sein scheint.
Ein Besuch der Aufführung Anna Bolena lohnt sich dennoch in jedem Fall. 150 Minuten reinstes, kraftvollstes Opernerlebnis mit talentiertesten Sängern und einem Orchester, das die Musik Donizettis gekonnt zum Leben erweckt. Nicht viel Schnickschnack drumherum, kein ablenkendes Bühnenbild, viel Requisite oder Statisterie. In erster Linie einfach Musik. Und zwar Musik in ihrer reinsten Form, die zu überzeugen weiß.
Kritik: Rebecca Raitz