Im Münchner Volkstheater wird in „Das ferne Land„ von Familiengeschichte erzählt, die einigen Zuschauern bekannt sein dürften.
Wer aus der Provinz ins teure München gezogen ist, fragt sich sicherlich das eine oder andere Mal, wenn er seine Lieben in der Heimat besucht, ob sie nicht denken, diese sei nicht mehr gut genug gewesen, man würde sich hier nicht wohl fühlen und sei darum weggegangen. Mit eben diesen Gedanken sieht sich Louis (Gregor Knop) konfrontiert, als er aus Paris zu seiner Familie zurückkehrt. Dass das Fortgehen seiner sexuellen Neigung geschuldet war, erfährt man aus dem Programmheft, dass seine Rückkehr mit dem Wunsch verbunden ist, vor seinem Ableben alle Lieben, oder wenigstens Bekannten, noch einmal zu sehen, bereits nach wenige Minuten. Denn Louis ist krank. Mit 34 hat er noch etwa ein Jahr zu leben. In dieser Art von Stadt, die seine Kindheit prägte, trifft er nun seit langem auf seine Familie. Zur Sicherheit nimmt er einen Freund (Jonathan Müller) mit. Dieser wird im Laufe der Handlung stets jener Observator sein, der unangenehme Situationen noch auf die Spitze treibt, lediglich indem er kommentarlos zuschaut.
Sollte eine Schwägerin (Pola Jane O’Mara) die man noch nie persönlich getroffen hat, umarmt werden? Oder reicht man ihr zur Vorsicht erst die Hand? Du oder Sie? Zwischendurch kommentieren der verstorbene Vater der Familie (Reinhardt Winter) und der verschiedene Liebling des Protagonisten (Mehmet Sözer) die Szene; auch die Freunde aus Paris, die bei dem Besuch eigentlich gar nicht dabei sind. All das mutet etwas surreal an. Das Großstadtleben eines emanzipierten Mannes mit enttäuschen Liebhabern und eifersüchtigen Frauen mischt sich mit Kleinbürgerlichkeit, gespielt vor einem grauen Hintergrund, auf Kunstrasen. Wird das Licht schwächer, könnte die Bühne an den Innenhof eines Gefängnisses erinnern.
Nach und nach stecken die Schauspieler Lilien in den Boden, sodass schlussendlich eine Wiese entsteht, die durch das künstliche Grün, den grauen Vorhang und den nahen Tod dennoch morbide wirkt. Pia Greven kommentiert in ihrem Bühnenbild nicht nur die Handlung, sie schafft auch weitere Bedeutungsebenen. Die Beziehung zwischen Stadt und Land, zwischen Natürlichem und Künstlichem, wird so noch einmal untermauert.
Wie entwickelt sich dieses Familiendrama also?
Der enttäuschte Bruder wird von Silas Breiding so authentisch gespielt, dass man ihn wirklich versteht, sogar hofft, er möge seinen Groll nicht gegen das Publikum richten. Wie viele Einflüsse zusammenkommen, um ihn zu einem cholerischen Dickkopf machen, der zum Teil auch nur verletzt oder enttäuscht ist, wird Stück für Stück klar. Man muss über jeden der Schauspieler sagen: das war wirklich auf den Punkt!
Sieht man Luise Deborah Daberkow als Schwester, so glaubt man, dass sie immer so sei. So aufgeregt, impulsiv und leidenschaftlich. Marie Goyette gibt als Mutter den Trotzkopf, der die Familie dennoch genau durchschaut und sie von Herzen liebt. Wenn sie von früher erzählen möchte, in der kleinen Videobox, kloppt sie wild aufs Mikrofon, um sicher zu gehen, dass sie wirklich jeder hört. Was die Figuren zur Weißglut treibt, amüsiert den Zuschauer. Über all dem thront Louis.
Sein makelloses Gesicht lächelt milde über die Herzensangelegenheiten aller anderen Figuren, seine höflichen und distanzierten Antworten lassen nicht tief blicken. Sie lassen gar nicht blicken, außer in die großen unschuldigen Augen. Doch eben diese Passivität wird der Figur, dem Unsicheren, dem vor dem Ende Stehenden, dem Sensiblen, sehr gerecht.
In zwei Stunden und vierzig Minuten versucht Regisseur Nikolas Charaux allen Figuren so gerecht zu werden, jeden Aspekt und jedes Gefühl für den Zuschauer klar zu machen. Davon gibt es reichlich in der Textvorlage von Jean-Luc Lagarce. Auffällig ist, dass es sich um ebendies handelt: eine Textvorlage, kein Stück. Die Vermischung von Toten und Lebenden, der Familie und der Wahlfamilie auf selber Bühne, ist in einem Roman sicher durchsichtiger. Gemeinsam mit der Videoübertragung, der Kombination von Livemusik und Tonbandspuren und den häufigen Kostümwechseln wird das alles im Volkstheater aber ein bisschen viel.
Auf jeden Charakter will eingegangen werden. Daraus resultieren Monologreihungen und Ausbrüche, die sich nicht dramaturgisch aufzubauen können. Wenn von der dritten Figur in Folge die Gefühle herausgeschrieben werden, kann der Zuschauer leicht denken, wieso man ihn denn nun anschreie, weil die Zeit schlicht fehlt, sich einzufühlen.
Immerhin, im zweiten Teil zieht die Inszenierung an, es geht straffer weiter. Ein kleines Fest wird aufgebaut, die Figuren tauen etwas auf, werden zuweilen sogar witzig. Am Ende noch ein starker Moment: Wie eine Ikone oder griechische Statue tritt der Krieger (Oleg Tikhomirov) der Großstadt-Casanova, nur in Höschen und ganz in Gold auf. Was für ein Bild! Dass nach diesem Höhepunkt alles wieder so weitergeht wie vorher, dass die Figuren doch nicht aus ihrer Haut können, ist als ernüchternder Plot-Twist sehr passend. Dennoch zieht sich auch diese Szene etwas in die Länge.
Zusammenfassend werden hier unheimlich viele Ideen verwirklicht und Aspekte berücksichtigt; deren Gesamtheit übersteigt schlussendlich aber die Tragkraft eines Theaterabends, der somit ein bisschen „over the top“ ist.
Bericht: Jana Taendler
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