„Stundenschlag für Stundenschlag“ – „Momo“ im Gärtnerplatztheater (Kritik)

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Familientaugliches Theater ist in München, abgesehen von einzelnen Ausnahmen natürlich, recht schwer zu finden. So ist es kein Wunder, dass im Publikum der als „Familienoper“ ausgeschriebenen Neuproduktion „Momo“ im Gärtnerplatztheater zahlreiche Kinder sitzen und staunend dem Vorgehen auf der Bühne folgen. Denn spannend ist die Opernfassung von Wilfried Hiller und Wolfgang Adenberg des 1974 erschienen Romans „Momo“ aus der Feder von Michael Ende allemal – es gibt keinen Moment Ruhe. Ständig bewegt sich die Bühne, dreht sich, erhebt sich, eine unaufhaltsame Kontinuität, die zu keinem Zeitpunkt Langeweile erlaubt und in der man stets neue Details entdecken kann. Ein Vorbote der gesamten Inszenierung, die durch ihre Verhandlungsfähigkeit und ihre fantasievoll kreierten Bilder und Charaktere gerade bei Jüngeren punkten kann.

© Christian POGO Zach

Gigi, der Fremdenführer, erzählt gekonnt seinem Publikum auf sowie vor der Bühne, wie ein fremdes Mädchen einfach so plötzlich in der Stadt auftauchte. Sie heißt Momo. Niemand weiß, wo sie her gekommen ist. Niemand weiß, wer ihre Eltern sind. Niemand weiß, was mit Momo passieren soll. Aber alle kümmern sich um sie und helfen ihr – und Momo wird mit ihrer außergewöhnlichen Gabe des Zuhörens zu einem bedeutsamen Teil der kleinen Gemeinde. Die Kinder spielen gerne mit ihr, denn mit Momo kann man Abenteuer erleben. Die Erwachsenen reden gerne mit ihr, denn Momo kann durch reines Zuhören Trost spenden und neue Ideen und Hoffnung sprießen lassen. Bis eines Tages die Grauen Herren der Zeitsparkasse in der Stadt auftauchen und die Menschen Stück für Stück davon überzeugen, dass sie ihre Zeit nicht optimal nutzen und deshalb sparen müssen. Die von Momo alarmierten Kinder versuchen noch ihre Eltern zu warnen, doch sie haben keine Chance. Die Grauen Herren erobern jeden Menschen mit ihrem Vortrag, der aus endlosen Zahlenreihen besteht und eigentlich keinen Sinn ergibt. Während andere aufgeben, begegnet Momo der außergewöhnlichen Schildkröte Kassiopeia. Außergewöhnlich deshalb, weil Kassiopeia auf ihrem Panzer Wörter erscheinen lassen und ein bisschen in die Zukunft schauen kann. Sie führt Momo zu Meister Hora, dem Verwalter aller Zeit, der ihr erklärt, was es mit der Zeit auf sich hat und wie Menschen Graue Herren entstehen lassen können, wenn sie unachtsam mit ihrer Lebenszeit umgehen. Als Momo zu ihren Freunden zurückkehrt ist viel mehr Zeit vergangen als gedacht und in ihrer Abwesenheit haben die Grauen Herren die Bewohner der Stadt dazu gebracht, ihre Lebenszeit zu optimieren und so viel Zeit wie möglich zu sparen. Die Kinder sind in Kinderdepots untergebracht, wo sie zeitsparendes Spielen lernen. Erwachsene hetzten nur noch durch ihr Leben. Momos Freund Gigi ist kein Fremdenführer mehr, sondern unglücklicher Schlager-Superstar. Die Grauen Herren verfolgen Momo und Kassiopeia, als diese erneut zu Meister Hora flüchten, denn sie wollen die Zeit aller Menschen für sich selbst haben. Hora erklärt daraufhin, dass die Grauen Herren ihre Lebensenergie aus der gesparten und abgestorbenen Zeit der Menschen ziehen und Momo beschließt die Grauen Herren aufzuhalten. Meister Hora hält daraufhin die Zeit an, sodass die Welt stillsteht und Momo mit Kassiopeias Hilfe den Grauen Herren folgen und ihnen den Weg zu ihren Zeitvorräten versperren kann. Momo gewinnt ihren Kampf gegen die Grauen Herren und gibt allen Stadtbewohnern ihre Zeit zurück.

© Christian POGO Zach

Zeit sparen. Was für eine absurde Idee. Aber in unserer immer schneller werdenden Gesellschaft mit Fastfood und Kaffee To Go mittlerweile Normalität. Die Platzierung der Neuproduktion in der Weihnachtszeit, in welcher sich viele Ruhe, Besinnlichkeit und mehr Zeit mit der Familie wünschen, ist ein strategischer Volltreffer. Die eigentlich zeitlos angesetzte Inszenierung bekommt durch kleine Accessoires wie die Zeitsparuhren im Apple-Watch-Design oder Gigis viel umjubelten, aber absolut sinnfreien Schlagerhit eine mehr als aktuelle Einordnung, und Kinder, die ihre Eltern auffordern, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, löst bei einigen bestimmt einen bitteren Nachgeschmack aus. Momos Position als Heldin der Geschichte, die den Menschen allein durch ihre Anwesenheit hilft, dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkt und zuhört und damit Hoffnung spenden kann, ist zusätzlich ein starkes Zeichen sowie Vorbild für Kinder und Jugendliche.

© Christian POGO Zach

Regisseurin Nicole Claudia Weber ist mit Momo sicherlich ein Hit gelungen, der aber zu großen Teilen auch auf der bereits vorhandenen Buchvorlage basiert. Dennoch tragen hauptsächlich gerade die sympathischen Charaktere wie Momo (Anna Woll) oder Gigi (Maximilian Mayer) die Produktion gemeinsam mit dem Bühnenbild und den mächtigen Stimmen der Darsteller. Illia Staple verbreitet dabei als Anführerin der Grauen Herren mit ihren hohen Tönen, die an kratzende Fingernägel auf einer Tafel erinnern, Gänsehaut im Publikum und ihr schallendes Gelächter, gepaart mit den beleuchteten Halskrausen, lässt die Grauen Herren wie zombiehafte, unmenschliche Skelette wirken. Insgesamt ist „Momo“ nicht opernhaft, auch wenn es tatsächlich eine Oper ist. Aber die moderne musikalische Begleitung erinnert mithilfe einer bemerkenswerten und nicht singenden Momo sehr wenig an eine klassische Oper á la Mozart. Das Textverständnis ist erstaunlich hoch und die fabelhafte Arbeit des Orchesters des Staatstheaters am Gärtnerplatz lässt die Produktion kurzweilig und abwechslungsreich erscheinen. Einziger Kritikpunkt ist die Inszenierung Meister Horas als weltfremden, kontinuierlich sich verrenkenden und zitternden Tai-Chi-Opa, der im Laufe seines Gesprächs mit Momo all seine Falten verliert und mit den Stimmen eines vielköpfigen Chores spricht. Es ist durchaus verständlich, dass die Umsetzung eines komplexen Charakters wie dem universellen Hüter aller Zeit eventuell nur auf unorthodoxe Art und Weise gelingen kann, jedoch sorgt diese Version Meister Horas (Matteo Carvone) gerade bei Kinder für anhaltende Verwirrung. Im Gegensatz dazu ist die Umsetzung der Schildkröte Kassiopeia besonders geglückt, denn Ina Bures spielt die überlebensgroße Schildkröte empathisch und instinktiv schön.

Insgesamt kann „Momo“ tatsächlich als Familienstück bestehen und bringt Kindern wie auch Erwachsenen Freunde beim Zuschauen. Vorheriges Lesen des Romans ist jedoch gerade für Jüngere empfehlenswert.

Kritik: Anna Matthiesen
Besuchte Vorstellung: 28. Dezember 2018