So recht vorhersagen lässt sich bei Neuproduktionen im Theater selten etwas, aber wenn sich Ulrich Rasche für eine Inszenierung verantwortlich zeigt, sind Live-Musik, ein stimmgewaltiger Ensemble-Chor und der immerwährende Lauf, zumeist in Form einer Drehscheibe, vorprogrammiert. Da ändern auch die verschärften Bedingungen in der Corona-Bedingungen nichts. So wird die Drehscheibe kurzerhand einfach größer, nicht als externes Element und nicht erhöh- oder kippbar. „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist ist relativ kurzfristig auserwählt worden und mimt den Spielzeit-Start in die neue Saison des Residenztheaters. Ein lauter und wechselhafter Beginn.
Die meisten Theater eröffnen derzeit mit einer Komödie – ein lockerer Einstieg, oftmals gut mit Abstandsregeln realisierbar. Zudem oft das, was das Publikum vermeintlich brauchen würde. Kleists Fiktion eines Erdbebens in Santiago und deren tödliche Folgen ist dagegen irrsinnig ernster Stoff ohne jeglichen humoristischen Einschlag. Dabei steigert sich nicht nur in der Novelle die Spannung, sondern auch gemächlich in der Inszenierung. Die unglaubliche Entschleunigung des Textes, die später erst zur Entfesselung der Wucht beitragen kann, ist ein altbekanntes Mittel Rasches. Funktioniert nicht immer, dieses Mal schon. Angespannt, aber emotionslos wird da die Vorgeschichte von Jeronimo und Josephe erzählt, dem Liebespaar wider Willen, das zum Tode verurteilt ist. Dann das Erdbeben und erstmals ein einprägsames Zusammenspiel von sich aufbauender Musik, leichtem Gleichklang-Chor (zu diesem Zeitpunkt: vier Personen) und der folgenden Ruhe nach dem Sturm.
Damit spielt sich Rasche dieses Mal akuter als je zuvor: er lässt die Schauspieler*innen wieder in die vorherigen Muster zurückfallen, erlaubt ihnen dann doch die Emotionen, um anschließend das gesamte Szenario mit einem Monolog zu crashen, der sichtlich in moderner Sprache verfasst und Bezug zur Corona-Pandemie ziehen soll. Dabei schwingen deutlich die Hoffnungen mit, die zu Beginn bestand: aus der Krise Neues schöpfen, Dinge von Grund auf verbessern, die Zeit für Regeneration und (Weiter-)Entwicklung nutzen. Diese Chancen sind im echten Leben bereits vertan, der Kapitalismus hat sich längst wieder in den Vordergrund gedrängt und der Lobbyismus ist so ausgeprägt und bedeutsam wie zuvor. Bei Kleist geht es um essenziellere Dinge: die Menschen an sich und ihre Gemütszustände zueinander. Wie sie zu Beginn stehen, dann freundschaftlich fallen und letztendlich vollkommen vergehen in Unmoral. Zu dieser Menschenstudie passt Ulrich Rasches Dauerinszenierung grandios, nur im Beginn des Gottesdienstes zieht sich der Abend. Dort ist die Entschleunigung dann doch etwas zu entschleunigt, denn das Stück selbst wäre wohl in einer Stunde ausreichend gespielt. Rasches Verlangsamung verhilft dem Ganzen zu über 150 Minuten Laufzeit am Stück. Sitzfleisch und Durchhaltevermögen sind daher definitiv empfehlenswert.
Auch eine emotionale Standhaftigkeit setzt der Abend voraus, denn während die Freude der Protagonisten über ihre positive Aufnahme nach dem Erdbeben und die naiven Gedanken zur realen Krise eine Portion überschwänglichen Optimismus ausstrahlen, baut sich vor allem zum Ende hin eine dermaßen bedrohliche Klangkulisse auf, dass einige im Saal bereits zum Zittern und Weinen beginnen. Natürlich, die Szenerie des Massenmords ist furchtbar und grausam, aber Nicola Mastroberardino als vollkommen verzweifelter Don Fernando, umzingelt vom sich um ihn drehenden Mob, der im Gleichklang immer aggressiver wird, während die Musik zu bis dato ungehörter Lautstärke auffährt, ergibt ein maßlos furchteinflößendes Bild, das Theater manchmal erschaffen will, aber es hier wohl so wahrhaftig wie noch nicht zuvor gelingt. Die Masse ist es auch, die das neunköpfige Ensemble als Einheit präsentiert, weniger als Individuen – die Rollen wechseln, zumeist wird erzählt. Und die (abstandsbedingt reduzierte) Masse ist es dann, die den Darsteller*innen und dem Kreativteam berechtigt zujubelt. Ein bild- und klanggewaltiger Einstand in die neue Saison, ein wahrhaftiger.
Kritik: Ludwig Stadler